Kann dunkle Materie entstehen, wenn sich Neutronen in Protonen umwandeln? Diese Theorie wird
heiß diskutiert – doch neue Analysen der TU Wien ergeben dafür keine Anzeichen.
Wien (tu) - Irgendetwas stimmt nicht in der Teilchenphysik: Zwei unterschiedliche Arten, die Lebensdauer
von Neutronen zu messen, liefern deutlich unterschiedliche Ergebnisse. Seit etwa fünfzehn Jahren ist dieses
Rätsel ungelöst. In letzter Zeit wurde eine mögliche Erklärung international intensiv diskutiert:
Könnte es sein, dass manche Neutronen in Dunkle Materie zerfallen, also in unbekannte Teilchen, die man bisher
nicht messen konnte?
An der TU Wien ging man dieser These nach. Große Datenmengen von hochpräzisen Neutronenexperimenten
wurden neu analysiert, zusätzliche Experimente wurden durchgeführt – auf dunkle Materie stieß man
dabei allerdings nicht. Im Gegenteil: 95% des Energiebereichs, in dem sich die Dunkle Materie theoretisch verstecken
könnte, ließ sich definitiv ausschließen. Für die Diskrepanzen in den Messungen der Neutronenlebensdauer
muss es wohl andere Gründe geben.
Das durchschnittliche Neutron lebt knapp eine Viertelstunde
Die Neutronen in einem Atomkern bleiben meist stabil, doch einzelne Neutronen, die ohne Bindung an andere Teilchen
herumfliegen, zerfallen nach einigen Minuten. Dabei entstehen Protonen, Elektronen und Neutrinos. „Die mittlere
Lebensdauer freier Neutronen kann man grundsätzlich auf zwei unterschiedliche Arten messen“, erklärt
Prof. Hartmut Abele vom Atominstitut der TU Wien. „Entweder man versucht, die Neutronen festzuhalten und zählt
nach einer Weile, wie viele von ihnen noch da sind. Oder man hält nach den Zerfallsprodukten Ausschau und
zählt die Anzahl der Zerfälle.“
Allerdings stimmen die Ergebnisse der beiden Methoden merkwürdigerweise nicht überein: Einmal misst man
879 Sekunden, einmal kommt man auf 888. Die Diskrepanz ließe sich erklären, wenn man annimmt, dass es
eine zusätzliche, bisher unbekannte Art des Neutronenzerfalls gibt, der zwar die Neutronenanzahl verringert,
aber nicht die Zerfallsprodukte liefert, nach denen man bisher Ausschau gehalten hat. Etwa ein Prozent der Neutronen
müsste auf diese exotische Weise zerfallen, um die Messergebnisse zu erklären.
Das Attraktive an dieser These ist, dass sie Hinweise auf die geheimnisvolle Dunkle Materie liefern könnte
– bisher unbekannte Teilchen, die es im Universum nach astronomischen Messungen zwar geben muss, die man aber bis
heute nicht gefunden hat.
„Aufgrund anderer Beobachtungen, etwa der Tatsache, dass es Neutronensterne gibt, lässt sich der Energiebereich
eingrenzen, in dem man solche unbekannten Teilchen finden könnte“, sagt Erwin Jericha vom Atominstitut der
TU Wien, der ebenfalls an der Datenanalyse arbeitete. „Den verbleibenden Bereich haben wir nun so gut wie möglich
analysiert.“ Entscheidend ist dabei die Energie der Elektronen, die beim Neutronenzerfall entstehen: Zerfallen
Neutronen in dunkle Materie, hätte das einen Einfluss auf die Energieverteilung der Elektronen – und diese
Energieverteilung lässt sich aus den Ergebnissen bereits durchgeführter Experimente herauslesen. So wurden
etwa in Grenoble mit dem PERKEO-Detektorsystem, das Hartmut Abele im Rahmen seiner Dissertation entwickelte, Daten
über Neutronenzerfälle gesammelt. Bei den Messungen beteiligt waren T. Soldner, der für die Polarisationsanalyse
verantwortlich war und B. Märkisch von der TU München.
Die Daten diese Experimente wurden vom Team am Atominstitut gemeinsam mit Forschungsgruppen der TU München
und des ILL nun neu analysiert. Michael Klopf, der bei Hartmut Abele an seiner Dissertation arbeitet, entwickelte
umfangreiche Computersimulationen und, gemeinsam mit Heiko Saul, Auswerteprogramme, die es erlauben, aus bereits
vorhandenen Daten die Verteilung der Elektronenenergien zu extrahieren. Zusätzlich wurden an der TU Wien weitere
Experimente durchgeführt.
Keine Spur von Dunkler Materie
Wie sich zeigte passen die Daten allerdings bestens zum bisherigen Standardmodell der Teilchenphysik – ganz ohne
dunkle Materie. „Für 95% des theoretisch möglichen Energiebereichs können wir ausschließen,
dass Neutronen in bisher unbekannte Teilchen zerfallen“, sagt Hartmut Abele. „Damit erscheint diese Theorie nun
äußerst unplausibel. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Diskrepanzen zwischen unterschiedlichen Messmethoden
der Neutronen-Lebensdauer auf systematische Fehler zurückzuführen sind, die man bisher falsch eingeschätzt
hat.“
Die Suche nach der geheimnisvollen Dunklen Materie geht also weiter. Bestätigt hat sich damit allerdings ein
weiteres Mal, dass sich Präzisionsmessungen mit Neutronen bestens eignen, um fundamentalen Grundfragen der
Physik nachzugehen.
Originalpublikation:M.Klopf
et al., Phys. Rev. Lett. 122, 222503 (2019)https://journals.aps.org/prl/abstract/10.1103/PhysRevLett.122.222503
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