Das Reichsgericht – als Vorläufer des heutigen Verfassungsgerichtshofes – nahm Tätigkeit
am 21. Juni 1869 auf
Wien (vfgh) - Das Reichsgericht der konstitutionellen Monarchie war ein Vorläufer des Verfassungsgerichtshofes.
Die besondere Bedeutung des Reichsgerichts liegt darin, dass einige institutionelle Besonderheiten, die den österreichischen
Verfassungsgerichtshof von anderen Verfassungsgerichten unterscheiden, bereits dort zu finden sind. Das Reichsgericht
war der erste Vertreter einer Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts für die "im Reichsrat vertretenen
Königreiche und Länder" Altösterreichs ("Cisleithanien"). Der Verwaltungsgerichtshof
wurde erst einige Zeit später, im Jahr 1876, errichtet.
Standort des Reichsgerichts am Schillerplatz
Das Reichsgericht wurde mit den Staatsgrundgesetzen vom 21. Dezember 1867 – der sogenannten Dezemberverfassung
1867 – errichtet. Es nahm seine Tätigkeit am 21. Juni 1869 auf. Seinen Sitz hatte es in Wiener Innenstadt,
zunächst in der Bankgasse (Nr. 10, dann Nr. 14), schließlich am Schillerplatz 4.
Hüter der Grundrechte
Das Reichsgericht war zur Entscheidung bei Kompetenzkonflikten (zB zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden)
und in "streitigen Angelegenheiten öffentlichen Rechtes" berufen; dazu gehörte vor allem auch
die Entscheidung über Beschwerden der Staatsbürger wegen Verletzung der ihnen durch die Verfassung gewährleisteten
politischen Rechte. Damit war das Reichsgericht das weltweit erste speziell zur Prüfung von Grundrechtsverletzungen
geschaffene Gericht.
Auf Lebenszeit bestellt
Der Präsident des Reichsgerichts und sein Stellvertreter wurden vom Kaiser ohne Vorschlag, die zwölf
Mitglieder und vier Ersatzmänner zu gleichen Teilen auf Grund von Dreiervorschlägen der beiden Häuser
des Reichsrats ernannt. Abgesehen vom Erfordernis einer nicht spezifizierten Sachkunde war eine weitere Qualifikation
für die Mitglieder des Reichsgerichts nicht vorgesehen. Unvereinbarkeitsbestimmungen fehlten. Die Mitglieder
des Reichsgerichts wurden auf Lebenszeit bestellt. Das Reichsgericht kannte bereits die Funktion der so genannten
ständigen Referenten, die das Gericht aus seiner Mitte für die Dauer von drei Jahren wählte. Dem
Vorsitzenden des Reichsgerichts kam ein Stimmrecht grundsätzlich nicht zu; nur bei Stimmengleichheit hatte
auch er seine Stimme abzugeben.
Letzter Präsident des Reichsgerichts: Karl von Grabmayr
Letzter Präsident des Reichsgerichts war der Tiroler Rechtsanwalt und ehemalige Abgeordnete zum Abgeordnetenhaus
Karl von Grabmayr. Grabmayr wurde 1919 zum Präsidenten des (deutschösterreichischen) Verwaltungsgerichtshofes
ernannt.
Der (deutschösterreichische) Verfassungsgerichtshof als Nachfolger
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie und der Entstehung der Republik Deutschösterreich vorerst in den
Rechtsbestand des neuen Staates übernommen, war das Reichsgericht doch eine Institution in Abwicklung. Das
Gericht war von den ersten Gesetzesbeschlüssen der Provisorischen Nationalversammlung nicht direkt betroffen,
stellte seine Arbeit aber im Dezember 1918 ein. Mit Gesetz vom 25. Jänner 1919 wurden die "dem ehemaligen
österreichischen Reichsgerichte zugewiesenen Aufgaben" dem neu errichteten deutschösterreichischen
Verfassungsgerichtshof übertragen. Am 24. Februar 1919 erfolgte schließlich die offizielle Amtsübergabe
des Präsidenten des ehemaligen Reichsgerichts, Karl von Grabmayr, an den Präsidenten des neuen Verfassungsgerichtshofes,
Paul von Vittorelli, der bereits dem alten Reichsgericht angehört hatte.
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