"On-the-fly" maschinelles Lernen erkennt atomare Wechselwirkungen in komplexen Materialien
Wien (universität) - Auf atomarer Ebene können Materialien eine reiche Palette an dynamischem
Verhalten zeigen, das sich direkt auf ihre physikalischen Eigenschaften auswirkt. Seit vielen Jahren versuchen
WissenschafterInnen diese Dynamik in komplexen Materialien bei verschiedenen Temperaturen zu beschreiben. Physiker
der Universität Wien haben nun eine neue "On-the-fly"-Maschinenlernmethode entwickelt, die solche
Berechnungen durch direkte Einbindung in das weitverbreitete Vienna Ab-initio Simulationspaket (VASP) ermöglicht.
Die Vielseitigkeit der selbstlernenden Methode belegen neue, im Fachjournal Physical Review Letters veröffentlichte
Erkenntnisse über die Phasenübergänge von Hybrid-Perowskiten, die wegen ihres Potenzials als neuartige
Solarzellen-Materialien zu dienen von großem wissenschaftlichem Interesse sind.
Bei Raumtemperatur befinden sich die Atome aller Materialien in ständiger Bewegung. Selbst solides Gestein
besteht aus schwingenden Atomen. Die physikalischen Eigenschaften von Materialien stehen in direktem Zusammenhang
mit der Anordnung ihrer Atome. Je nach Temperatur oder Druck können sich diese Anordnungen und die Materialeigenschaften
ändern. Veranschaulicht am Beispiel eines Diamanten, ist dieser, der transparent und hart, weil die Kohlenstoffatome
im Diamantkristall periodisch angeordnet sind. Aus den gleichen Atomen entsteht bei anderer Anordnung schwarzer,
spröder Graphit. Für einfache Materialien ist es möglich, die Position ihrer Atome bei verschiedenen
Temperaturen mit quantenmechanischen Molekulardynamik-(MD)-Simulationen genau zu bestimmen. Solche Berechnungen
sind jedoch rechenintensiv und beschränken die praktische Anwendung auf ein paar hundert Atome und eine begrenzte
Simulationszeit.
Physiker aus der Gruppe Computergestützte Materialphysik an der Universität Wien haben nun einen neuen
Ansatz entwickelt, der diese Einschränkungen überwindet und Simulationen komplexer Materialien für
zukünftige Energieanwendungen ermöglicht. Dies wird durch die Entwicklung eines effizienten und robusten
datengesteuerten selbstlernenden Algorithmus erreicht und vor allem durch die direkte Integration dieses Algorithmus
in das Vienna Ab-initio Simulation Package (VASP). Im neuen Ansatz kann die "Maschine" ganz allein die
wesentlichen Bestandteile für eine einfachere Beschreibung der wechselwirkenden Atome noch während der
MD-Simulationen bereitstellen. Bereits nach der Berechnung von einigen hundert bis tausend Zeitschritten ist die
Maschine genau genug, um eine Vorhersage der Positionen der Atome im nachfolgenden Zeitschritt zu machen.
Die Maschine ist auch in der Lage, eine Schätzung ihrer Genauigkeit für die nachfolgenden Schritte vorzunehmen.
Wenn der Fehler zu hoch ist, schaltet die Maschine auf die genauen, aber rechenintensiven MD-Berechnungen um. Je
mehr Simulationszeit vergeht, desto mehr lernt die Maschine und desto genauer wird sie. Auf diese Weise sind immer
weniger MD-Berechnungen erforderlich, was schließlich dazu führt, dass alle Zeitschritte von der Maschine
ausgeführt werden. Die Selbstlernfähigkeit bei laufendem Betrieb reduziert den Bedarf an menschlichem
Eingreifen, der bei bestehenden Methoden des Maschinenlernens üblicherweise erforderlich ist.
Um die Leistungsfähigkeit der neuen Methode unter Beweis zu stellen, haben die Forscher damit Übergänge
zwischen den verschiedenen Atomstrukturen des MAPbI3-Perowskits nach Änderung der Temperatur untersucht. Dieses
Material ist wegen seines Potenzials als neues, billiges Solarzellen-Material eingesetzt zu werden sehr beliebt.
Es besteht aus organischen Molekülen, die sich schnell drehen können und durch ein Gitter aus Blei- und
Iodidatomen getrennt sind. Je nach Temperatur entstehen drei verschiedene Kristallphasen. Die atomaren Mechanismen
in der Nähe der Übergangstemperatur sind sehr schwer experimentell zu bestimmen, und herkömmliche
MD-Simulationen würden selbst auf einem modernen Supercomputer jahrelange Rechenzeit erfordern.
Mit der neuen "On-the-Fly"-Methode kann die Maschine nach dem Lernen die Phasenübergangstemperaturen
und Gitterkonstanten dieses Materials mit beispielloser Präzision vorhersagen. Die neu entwickelte Methode
ist allgemein und auf viele andere zukünftige materialwissenschaftliche Probleme anwendbar und wird in der
kommenden Version von VASP für ForscherInnen weltweit verfügbar sein.
Dieses Projekt wurde vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) gefördert: P 30316-N27.
Publikation in Physical Review Letters
“Phase Transitions of Hybrid Perovskites Simulated by Machine-Learning
Force Fields Trained on the Fly with Bayesian Inference”, Ryosuke Jinnouchi, Jonathan Lahnsteiner, Ferenc Karsai,
Georg Kresse and Menno Bokdam, Phys. Rev. Lett. 122, 225701 (2019), DOI: 10.1103/PhysRevLett.122.225701
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