Wiener Wissenschaftler entdecken neuartiges Immundefizienz-Syndrom
Istanbul/Leiden/Wien (kinderkrebsforschung) - Erstmals konnte ein bisher unbekanntes Immundefizienz-Syndrom
nachgewiesen werden, das auf einer verminderten Funktionalität des Enzymkomplexes Polymerase delta beruht
und wichtige Erkenntnisse zur adaptiven Immunität und Krebsentstehung bringt. Dieses Enzym ist eine wesentliche
Steuereinheit in der DNA-Replikation. Wird es aufgrund von Mutationen in seiner Funktion beeinträchtigt, führt
dies zu genomischer Instabilität, neurologischen Entwicklungsstörungen und Immundefizienz. Die Studie
wurde aktuell im renommierten Journal of Clinical Investigation veröffentlicht.
Gene sind Grundbausteine des Lebens und daher von essenzieller Wichtigkeit. Die für deren Vervielfältigung
verantwortlichen Faktoren sind daher in fast allen Lebewesen in sehr ähnlicher Weise vorhanden und haben sich
über die Jahrtausende kaum verändert. Ein solcher Faktor ist beispielsweise die Polymerase delta. Dieser
Enzymkomplex ist nicht nur für die DNA-Replikation, sondern auch für die Stabilisierung des Genoms und
die Regulierung des Zellzyklus ein zentrales Element. Polymerase delta setzt sich aus vier Bausteinen zusammen:
POLD1 und die zusätzlichen Untereinheiten POLD2, POLD3 und POLD4. Organismen, die schwere Störungen solcher
DNA-Polymerasen aufweisen, sind häufig nicht lebensfähig, was deren Beforschung naturgemäß
erschwert.
Unter der Federführung von Kaan Boztug, Wissenschaftlicher Direktor der St. Anna Kinderkrebsforschung, konnten
ForscherInnen des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD), des CeMM Forschungzentrums
für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie der Medizinischen Universität
Wien gemeinsam mit Kollaborationspartnern von der Universität Istanbul und der Universität Leiden erstmals
zwei Patienten mit einem neuartigen Immunschwäche-Syndrom identifizieren, das auf einer verminderten Funktionalität
von Polymerase delta beruht. Konkret konnten bei den nicht verwandten Patienten biallele Keimbahnmutationen, also
von beiden Eltern vererbte Genveränderungen, in POLD1 und in POLD2 nachgewiesen werden. In beiden Fällen
führte dies zu einem Immundefizienz-Syndrom mit wiederkehrenden Atemwegsinfektionen, Hautproblemen und neurologischen
Entwicklungsstörungen. Bei genauerer Untersuchung der Krankheitsmechanismen stellte sich heraus, dass der
Zellzyklus in den Lymphozyten beider Patienten beeinträchtigt war. So traten bei der DNA-Replikation vermehrt
Kopierfehler auf, die in der Zelle zu Warnmarkierungen auf der DNA führen und dadurch verantwortlich für
die Funktionsstörung des Zellzyklus waren.
Da in diesem Fall nicht wie bei anderen Immunschwäche-Syndromen ein immunspezifischer Faktor gestört
ist, sondern eine Grundfunktion der Zelle, liefern die diesem Syndrom zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen
interessanterweise außerdem Schlüsselinformationen für andere Krankheitsbilder wie zum Beispiel
Kinderkrebs. Obwohl Immunzellen hier besonders betroffen waren, ist der Mechanismus, durch den Polymerase delta
die Genomduplikation steuert, relevant für die Funktion aller Zellen. Eine Störung kann dramatische Konsequenzen
im Gleichgewicht des Zellwachstums nach sich ziehen. So weiß man, dass bestimmte Mutationen in POLD1 zur
Entstehung des „Mutator-Phänotyps“ beitragen, der zu genetischer Instabilität und damit zur Krebsentstehung
beiträgt. Entsprechend ist POLD1 in einer internationalen Klassifizierung als hochgefährlicher Krebsverursacher
eingestuft. Die hier beschriebenen angeborenen POLD1/2-Mutationen führen hingegen zu einer verminderten intrinsischen
Aktivität (der „eigentlichen Aufgabe“) der Polymerase delta, mit möglicherweise erhöhter Neigung
zur Krebsentstehung im Sinne eines Krebs-Prädispositionssyndroms. Die vorliegende Studie soll auch für
die Identifizierung weiterer Patienten sensibilisieren, um eine systematische Analyse des Krebsrisikos bei betroffenen
Kindern und Kindern mit verwandten Krankheitsbildern zu ermöglichen.
Durchführung und Förderungen
Die meisten experimentellen Analysen und Interpretation der klinischen Daten wurden von den geteilten Erstautoren
Cecilia Dominguez Conde, Özlem Yüce Petronczki, Safa Baris und Katharina Willmann durchgeführt.
Die Studie wurde im Rahmen des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD), der St.
Anna Kinderkrebsforschung, des CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie
der Wissenschaften und der MedUni Wien sowie aus Fördermitteln des European Research Council (ERC StG 310857),
der Österreichischen Nationalbank (ÖNB Jubiläumsfonds 16385), dem Österreichischen Wissenschaftsfonds
(FWF Lise Meitner Fellowship M1809) und der Jeffrey Modell Foundation realisiert.
Publikation
“Polymerase d deficiency causes syndromic immunodeficiency with
replicative stress”; Cecilia Domínguez Conde*, Özlem Yüce Petronczki*, Safa Baris*, Katharina
L. Willmann*, Enrico Girardi, Elisabeth Salzer, Stefan Weitzer, Rico Chandra Ardy, Ana Krolo, Hanna Ijspeert, Ayca
Kiykim, Elif Karakoc-Aydiner, Elisabeth Förster-Waldl, Leo Kager, Winfried F. Pickl, Giulio Superti-Furga,
Javier Martínez, Joanna Loizou, Ahmet Ozen, Mirjam van der Burg, und Kaan Boztug; veröffentlicht in
“The Journal of Clinical Investigation”. J Clin Invest. 2019 Aug 26. pii: 128903. doi: 10.1172/JCI128903. (*shared
first authorship)
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