Wien (öaw) - Ab 1943 flogen die alliierten Kriegsparteien Bombenangriffe gegen Ziele im heutigen Österreich
und ab 1944 auch gegen Ungarn. Dabei stürzten über 1.000 Flugzeuge und mit ihnen mehr als 8.000 Besatzungsmitglieder
ab, die oftmals von der Bevölkerung äußerst brutal behandelt wurden. Gefördert von der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften werden am Haus der Geschichte Österreich ihre Schicksale untersucht und durch
eine neue Website öffentlich zugänglich gemacht.
Der Luftkrieg durch die Alliierten, etwa gegen die Industrie in Linz oder Wiener Neustadt, ist im österreichischen
Bewusstsein fest verankert. Deutlich weniger erinnert werden im kollektiven Bewusstsein hingegen die abgestürzten
Flugzeuge und ihre Besatzungsmitglieder, die von der einheimischen Bevölkerung, insbesondere von Angehörigen
des NS-Regimes, mit größter Brutalität behandelt wurden. Die verübten Verbrechen reichen von
unterlassener Hilfeleistung und Versorgung über Beschimpfungen und Misshandlung bis hin zu Lynchmorden.
Die Historikerin Nicole-Melanie Goll vom an der Österreichischen Nationalbibliothek angesiedelten Haus der
Geschichte Österreich (hdgö) erforscht unter Projektleitung von Georg Hoffmann mithilfe einer Förderung
durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) die Schicksale von rund 8.300 Besatzungsangehörigen
aus 1.058 US-amerikanischen und britischen Flugzeugen, die im Einsatz über dem heutigen Österreich und
Ungarn abgestürzt sind. Auf einer digitalen Landkarte, umgesetzt vom Austrian Centre for Digital Humanities
der ÖAW, kann man die teilweise sehr unterschiedlichen Kriegserfahrungen, Absturzorte und Schicksale der Soldaten
nach dem Absturz nachschlagen und nachvollziehen.
Lynchmorde seit 1945 bekannt
Ursprünglich ist das Thema der gelynchten Besatzungen bereits im Oktober 1945 aufgekommen, als britische Einheiten
potenzielle Kriegsverbrechen in Österreich untersuchten und nach Vermissten fahndeten. Mehrere Zeugenaussagen
bestätigten den Besatzungsbehörden die Ermordung eines alliierten Piloten im April 1945 nahe Linz. Daraufhin
nahm auch das US-Kriegsministerium Ermittlungen auf und fand heraus, dass der afroamerikanische Pilot Walter P.
Manning in der Nacht vom 3. auf den 4. April von Unbekannten aus seiner Gefängniszelle geholt, schwer misshandelt
und an einem Laternenpfahl erhängt worden war. Die Untersuchung des Mordes wurde im Nachkriegsösterreich
kaum weiterverfolgt. Erst 73 Jahre nach seinem Tod, am 3. April 2018, wurde am Fliegerhorst Linz-Hörsching
eine Gedenktafel für Walter P. Manning enthüllt.
Wie die Wissenschaftler/innen Goll und Hofmann im Detail herausfanden, war Mannings Tötung alles andere als
ein Einzelfall. „Wir waren selbst vom Ausmaß der Lynchtötungen überrascht, vor allem aber, dass
sie mit Mai 1944 im gesamten Deutschen Reich gleichzeitig einsetzten“, sagt Forscherin Nicole-Melanie Goll. Das
Thema sei, anders als der Luftkrieg selbst, noch viel zu wenig im Bewusstsein verankert und sei auch lange unerforscht
geblieben.
Motivation des NS-Regimes
Warum griff die Bevölkerung in so vielen Fällen auf Lynchjustiz zurück? Einer der Gründe war,
dass die deutsche Luftwaffe den alliierten Luftbombardements ab Ende 1943 kaum mehr militärisch begegnen konnte,
woraufhin die NS-Propaganda Wege suchte, die Kriegsmoral der Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Der Luftkrieg,
vom Deutschen Reich in den ersten Kriegsjahren nicht minder aggressiv gegen die Zivilbevölkerung etwa in Warschau
oder Coventry eingesetzt, wurde von der NS-Propaganda als „Verbrechen“ tituliert. Gegnerische Flugzeugbesatzungen
wurden als „Kindermörder“, „Lufthunnen“ und „Luftgangster“ bezeichnet.
Im Mai 1944 schließlich erließ das NS-Regime den Beschluss, dass die geeignete Maßnahme nach
Abstürzen von feindlichen Flugzeugen das „Lynchen“ von Fliegerbesatzungen durch die Bevölkerung sei.
Auf diese Weise wurden Wut und Zorn über die Luftangriffe kanalisiert und vom Regime weggelenkt - und Gewaltexzesse
sowohl durch NS-Personal wie auch die Zivilbevölkerung brachen sich Bahn. „Die Folge sind die bis heute tabuisierten
Fliegermorde, denen in Österreich und Ungarn 101 Flieger und im gesamten Deutschen Reich wohl Tausende zum
Opfer fielen“, sagt Goll.
Digitale Landkarte als Web-App
Vor diesem historischen Hintergrund arbeitet sie gemeinsam mit ihren Kolleg/innen seit zwei Jahren am Forschungsprojekt
„Downed Allied Aircrew Database Austria“, das alle auf dem Gebiet des heutigen Österreich abgestürzten
Flugzeuge dokumentiert. Auf der dazugehörigen Website werden die Ergebnisse des Projekts, das von der ÖAW
mit ihrem Digital Humanities-Programm gefördert wird, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Erstmals ist es damit möglich, das Schicksal einzelner Flieger von ihrem Absturz, der Gefangennahme durch
Zivilbevölkerung, Gestapo, Wehrmacht oder Luftwaffe bis hin zu den unterschiedlichen Orten ihrer Kriegsgefangenschaft
nachzuvollziehen. Auch bisher unbekannte Vermisstenschicksale können so geklärt werden. Die Grundlage
dafür ist Archivmaterial aus Österreich, Deutschland, Großbritannien und den USA, das die Forscher/innen
erstmals wissenschaftlich erschlossen haben.
Das Projekt läuft vorläufig noch bis Ende 2019, die Forscher/innen planen aber eine Verlängerung
bzw. Fortsetzung. Denn erschöpfend erforscht sind die abgestürzten Flieger noch nicht: Von mindestens
200 Piloten fehlt bis heute jede Spur. Das Team hofft, auch über ihr Schicksal nach dem Absturz noch mehr
herausfinden zu können.
Website
Die in einer Zusammenarbeit von Österreichischer Akademie der Wissenschaften und Haus der Geschichte Österreich
aufgebaute Website „Downed Allied Aircrew Database Austria“ erfasst und visualisiert westalliierte Flugzeugabstürze
während des Zweiten Weltkrieges im heutigen Österreich.
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