Bevölkerungsgeschichte Süd- und Zentralasiens der letzten Jahrtausende in neuem Licht
Wien (universität) - Die größte jemals durchgeführte Studie alter menschlicher DNA
wirft ein neues Licht auf die Herkunft von zentral- und südasiatischen Bevölkerungen. Im Fokus der Studie,
an der Ron Pinhasi vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien als Haupt-Senior-Autor
beteiligt waren, steht der Ursprung der Landwirtschaft und der indogermanischen Sprachen. Die Ergebnisse erscheinen
aktuell in der Zeitschrift "Science".
Ein internationales Team von GenetikerInnen, ArchäologInnen und AnthropologInnen analysierte die Genome von
524, bislang nie untersuchten prähistorischen Individuen aus Zentral- und Südasien. Diese Genome wurden
miteinander und mit zuvor sequenzierten verglichen und mit archäologischen, sprachlichen und historischen
Aufzeichnungen kontextualisiert. So konnten wichtige Details darüber gewonnen werden, wer in dieser riesigen
Region vom Mesolithikum (vor etwa 12.000 Jahren) bis zur Eisenzeit (bis vor etwa 2.000 Jahren) lebte und was das
für die Menschen bedeutet, die heute dort leben.
"Mit diesen Proben können wir subtile Wechselwirkungen zwischen Populationen sowie Ausreißer innerhalb
von Populationen erkennen", sagt David Reich von der Harvard Medical School: "Diese Studie unterstreicht
die Stärke groß angelegter alter DNA-Studien und verändert unsere Sicht auf die Vergangenheit."
Die Studie behandelt zwei der tiefgreifendsten kulturellen Veränderungen im alten Eurasien, die mit Bevölkerungsbewegungen
verbunden sind: den Übergang von der Jäger- und-Sammler-Kultur zur Landwirtschaft und die Verbreitung
der indoeuropäischen Sprachen, die heute von den Britischen Inseln bis nach Südasien gesprochen werden.
"Wirklich aufregend an der Studie ist, wie sie Genetik mit Archäologie und Linguistik verbindet",
erklärt Ron Pinhasi vom Department für Anthropologie der Universität Wien: "Wir haben Daten,
Methoden und Perspektiven aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zusammengeführt: Dieser integrative
Zugang ermöglicht, dass wir so viele Informationen über die Vergangenheit gewinnen konnten".
Außerdem ermöglichten neue Sampling-Methoden, den Schaden an den Skeletten möglichst gering zu
halten – was laut Co-Autorin Maria Teschler-Nicola vom Department für Evolutionäre Anthropologie der
Universität Wien enorm wichtig ist –, aber dennoch aufschlussreiche genetische Daten aus Regionen zu bekommen,
in denen das Untersuchungsgut oft unzureichend erhalten ist.
Ursprung der Indoeuropäischen Sprachen
Indoeuropäische Sprachen – Hindi/Urdu, Bengali, Punjabi, Persisch, Russisch, Englisch, Spanisch, Gälisch
und mehr als 400 andere – bilden die größte Sprachfamilie der Welt.
Seit Jahrzehnten debattieren Spezialisten darüber, wie sich die indoeuropäischen Sprachen in so weit
voneinander entfernte Teile der Welt ausbreiten konnten. Vielleicht über Hirten aus der eurasischen Steppe,
die so genannte "Steppe-Hypothese"? Oder reisten sie mit Bauern, die sowohl aus Anatolien (heute Türkei)
nach Westen als auch nach Osten zogen - die "Anatolische Hypothese"?
Die neue "Science"-Studie erbrachte nun, was Südasien betrifft, eine überzeugende Neuerkenntnis:
"Wir können eine Ausbreitung von Bauern mit anatolischen Wurzeln nach Südasien ausschließen,
was das Kernstück der Hypothese ist, dass Bevölkerungsbewegungen aus Anatolien und über den Iran
sowohl für die Verbreitung der Landwirtschaft als auch für indoeuropäische Sprachen nach Südasien
verantwortlich waren"," sagte Reich. "Das ist ein Schachmatt für die anatolische Hypothese."
Eine neue Beweislinie für einen Steppenursprung der indoeuropäischen Sprachen ist, dass die genetischen
Muster den Indo-Iranischen und Balto-Slawischen Zweig überzeugend verbinden. Die aDNA-Analyse zeigt, dass
beide Sprachzweige aus einer Untergruppe von Steppen-Viehzüchtern stammen, die sich vor fast 5.000 Jahren
in den Westen, nach Europa, bewegten und sich dann, innerhalb der folgenden 1.500 Jahre, wieder ostwärts nach
Zentral- und Südasien ausbreiteten. Dies liefert eine einfache Erklärung in Bezug auf die Bevölkerungsbewegungen
des prähistorischen Menschen, für die ansonsten rätselhaften gemeinsamen sprachlichen Merkmale dieser
beiden Zweige des Indo-Europäischen, die heute durch große geografische Entfernungen getrennt sind.
Ursprünge der Landwirtschaft
Die Studie informiert auch darüber, ob der Wandel einer Wirtschaftsform stärker von Populationsbewegungen
oder dem Kopieren von Ideen oder lokalen Erfindungen getrieben wurde. In Europa haben aDNA-Studien deutlich gemacht,
dass die Landwirtschaft zusammen mit einem Zustrom von Menschen mit Abstammung aus Anatolien ankam.
Die neue Studie zeigt eine ähnliche Dynamik im Iran und in Zentralasien, d.h., dass anatolische Abstammung
und Landwirtschaft ungefähr zur gleichen Zeit ankamen. Die Ausbreitung der Landwirtschaft in diesen Regionen
wurde also auch durch Wanderbewegungen der Menschen angetrieben.
Die Ausbreitung der Landwirtschaft beinhaltete also nicht nur eine westliche Richtung von Anatolien nach Europa,
sondern auch eine ostwärts gewandte von Anatolien nach Asien, quasi eine bronzezeitliche Seidenstraße
In Südasien sieht die Situation ganz anders aus: Die ForscherInnen fanden keine Spur von anatolischer Abstammung,
die ein Kennzeichen der Ausbreitung der Landwirtschaft nach Westen ist. Das bedeutet, dass die Landwirtschaft in
Südasien nicht auf die Zuwanderung von Menschen zurückzuführen ist – zumindest nicht auf Menschen
aus den früheren Bauernkulturen des Westens. Stattdessen nahmen die lokalen Bevölkerungen diese Wirtschaftsform
an. "Vor der Ankunft der Steppen-Viehzüchter, die ihre indoeuropäischen Sprachen vor viertausend
Jahren brachten, finden wir keine Hinweise auf große Bevölkerungsbewegungen nach Südasien",
so Reich.
Publikation in "Science":
The formation of human populations in South and Central Asia
Narasimhan et al., Science 365, eaat7487 (2019)
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