Zu mehreren Arbeitsgesprächen fand sich Mitte September eine Delegation des Verfassungsgerichts
von Bosnien und Herzegowina im Verfassungsgerichtshof ein.
Sarajevo/Wien (vfgh) - Angeführt wurde die Abordnung des Verfassungsgerichts aus Sarajevo von Präsident
Zlatko M. Kneževic. Seitens des VfGH nahmen Vizepräsident Prof. Christoph Grabenwarter und die Verfassungsrichterinnen
und -richter Dr. Claudia Kahr, Prof. Wolfgang Brandstetter sowie Prof. Georg Lienbacher an den Gesprächen
teil.
Das erste Fachgespräch zum Thema „Der Einfluss von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte auf die Anwendung europäischer Standards in der nationalen Gesetzgebung“ leiteten Kurzreferate
von Präsident Kneževic und Verfassungsrichter Lienbacher ein. Kneževic stellte das heutige bosnisch-herzegowinische
Verfassungsgericht in einen historischen Kontext der Gründung des ersten Verfassungsgerichts des ehemaligen
Jugoslawiens 1963. Grundlage für das heutige Verfassungsgericht der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik
Bosnien ist Art. VI der Verfassung von Bosnien und Herzegowina gemäß Annex 4 des Friedensvertrages von
Dayton 1995. Art. II dieser Verfassung bestimmt, dass die in der Europäischen Menschenrechtskonvention und
ihren Zusatzprotokollen verankerten Rechte und Freiheiten in Bosnien und Herzegowina unmittelbar anwendbar sind
und Vorrang vor dem Gesetz haben. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings dort, wo die Verfassung selbst Anordnungen
enthält, die mit der EMRK nicht vereinbar sind: So können in das Abgeordnetenhaus und das dreigliedrige
Staatspräsidium nur Staatsbürger gewählt werden, die einer der drei staatsbildenden Volksgruppen
(Bosnier, Kroaten, Serben) angehören; eine Regelung, die nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte (EGMR [GK] 22.12.2009, 27996/06, Sejdic und Finci) gegen das Diskriminierungsverbot der
EMRK verstößt. In welcher Form dieses Urteil umgesetzt wird, ist bis heute offen. Von österreichischer
Seite wurde auf die Auswirkungen der Rechtsprechung des EGMR auf die Neuorganisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit
verwiesen.
Im Fokus des zweiten Fachgesprächs im VfGH stand das Spannungsfeld von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
Speziell wurde auf die Rolle der nationalen Verfassungsgerichte eingegangen. Zum Thema referierten der bosnische
VfG-Vizepräsident Mirsad Ceman und Verfassungsrichterin Valerija Galic sowie von österreichischer Seite
VfGH-Vizepräsident Christoph Grabenwarter. Der VfGH-Vizepräsident betonte dabei, es sei „charakteristisch
für die europäische Verfassungsentwicklung der letzten 25 Jahre, dass Verfassungsgerichte nicht isoliert
im Rahmen ihrer Verfassung tätig sind, sondern in Kooperation mit anderen Verfassungsgerichten und mit den
Europäischen Gerichtshöfen agieren“. Dies gelte auch und gerade für den Bereich der Sicherung von
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. „Die Verfassungsgerichte stärken die Rechtsgemeinschaft und damit die
Werteunion dadurch, dass sie über die Einhaltung der demokratischen und rechtsstaatlichen Garantien in der
Durchführung des Unionsrechts durch die Organe der Mitgliedstaaten wachen. Dazu gehört die verfassungsgesetzlich
gebotene Beteiligung der Parlamente ebenso wie die Sicherung der Zuständigkeit und Unabhängigkeit von
Gerichten“, so Grabenwarter.
Die Fachgespräche schlossen mit einem Gedankenaustausch über die Voraussetzungen und Möglichkeiten
elektronischer Stimmabgabe bei demokratischen Wahlen. Die Vertreter beider Gerichte verwiesen auf die Gefahren
und verfassungsrechtlichen Schranken dieser Form der Distanzwahl.
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