Leopold Museum widmet dem ersten österreichischen Expressionisten umfassende Ausstellung
– dessen Werke treten in einen Dialog mit Exponaten der klassischen Moderne
Wien (leopoldmuseum) - Noch vor Oskar Kokoschka und Egon Schiele schuf Richard Gerstl ein eigenständiges
expressives Œuvre voller stilistischer Neuerungen, die den Konventionen der damaligen Zeit radikal widersprachen.
25 Jahre nach der letzten monografischen Präsentation in Österreich erforschen die Kuratoren der Ausstellung,
Hans-Peter Wipplinger und Diethard Leopold, künstlerisch-kulturelle Kontexte und präsentieren erstmals
mittels Gegenüberstellungen die intensive Auseinandersetzung Gerstls mit der internationalen modernen Malerei
seiner Zeit. Die Prägung des Œuvres, nicht zuletzt durch seine Begeisterung für Musik, Literatur und
Psychologie, sowie der Einfluss seines Werks auf nachfolgende Künstlergenerationen werden überdies thematisiert.
Die Auswahl der gezeigten zeitgenössischen Arbeiten bezieht sich nicht nur auf die gestische, sich zur Abstraktion
hin öffnende Malerei des von KennerInnen geschätzten, aber immer noch zu wenig bekannten Malers der Wiener
Moderne, sondern auch auf die Kompromisslosigkeit seiner künstlerischen Haltung. Die Ausstellung entstand
in Kooperation mit dem Kunsthaus Zug, welches die zweitgrößte Gerstl-Sammlung im Bestand hat.
Schleier des Ungewissen über Gerstls Leben und Werk
Aufgrund fehlender Fakten sind Leben und Werk Gerstls durchsetzt mit Geschichten und Legenden. Immer wieder
stieß sich der 1883 in Wien geborene, in seiner Persönlichkeitsstruktur komplexe Künstler im Laufe
seiner Biografie an Autoritäten, fand sich schwer im Kreis seiner Malerkollegen zurecht oder überwarf
sich mit Lehrern und Ausstellungsmachern.
„Erfahrene Zurückweisung und Unverständnis in der bildenden Kunst ließ ihn eine Heimat in einer
anderen künstlerischen Disziplin finden: im musikalischen Umfeld des Arnold Schönberg-Kreises. Insbesondere
mit Schönberg verband ihn eine Seelenverwandtschaft – gemeinsame musikalische und malerische Interessen bestärkten
die konsequente ästhetische Haltung beider Künstler und forcierten ihren Experimentierwillen. Hier Schönberg,
der drauf und dran war, den Abschied von der Tonalität einzuleiten und damit den Ordnungsverlust von Harmonie
in Kauf zu nehmen, dort Gerstl, der die Umwertung tradierter Werte im malerischen Bereich initiierte und in Österreich
als Erster den Schritt in den Expressionismus wagte", so Hans-Peter Wipplinger.
„Der jeweilige und fast gleichzeitige Schritt beider Künstler über die Schwelle des Herkömmlichen
im Juli 1908 ist zwar erstaunlich. Aber es darf nicht vergessen werden, dass der Schritt ins Neue auf beiden Seiten
durch jahrelanges Nachdenken und Modifizieren des jeweiligen künstlerischen Mediums vorbereitet und entwickelt
wurde. Der Wahrheit des kreativen Prozesses am nächsten kommt wohl die Ansicht, dass sich beide Künstler
gegenseitig zur Freiheit motiviert hatten und dass sie ineinander das fanden, was für schöpferische Arbeit
so wichtig, ja fast unentbehrlich ist: Verständnis und Anerkennung“, sagte Diethard Leopold.
Auf der Höhe seines malerischen Könnens fand Gerstls Leben ein plötzliches Ende. Auslöser war
eine unglückliche Liebesaffäre mit Mathilde, der Frau Arnold Schönbergs. Nachdem das Liebespaar
ertappt wurde kam es zur vorübergehenden Trennung der Schönbergs, nach der Mathilde jedoch zu ihrem Ehemann
zurückkehrte. Die Zurückweisung durch die Geliebte, der folgende Ausschluss aus dem Schönberg-Kreis
und die fehlenden Präsentationen seines Werks trieben den psychisch labilen Künstler am 4. November 1908
in den Selbstmord.
Wiederentdeckung nach mehr als zwei Jahrzehnten
Gerstls Schaffen wurde zu Lebzeiten kaum verstanden, nach seinem Tod eingelagert und erst lange Zeit danach
wiederentdeckt: Mehr als zwei Jahrzehnte später zeigte sein Bruder Alois dem Kunsthistoriker und Galeristen
Otto Nirenstein (Kallir) das Œuvre, worauf sich der Kunstkenner intensiv für dessen Bekanntmachung einsetzte.
Um 1960 nahm zudem der Kunsthistoriker Otto Breicha seine intensiven Forschungen zu Gerstl auf. Breicha gilt als
einer der ersten Gerstl-Spezalisten und hatte eine beratende Funktion in der in Wien ansässigen Galerie Würthle
inne. An diese verkaufte Otto Kallir, der anlässlich des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges nach New York emigriert
war, in den 1950er-Jahren 18 Werke Gerstls, da der Transport in die USA zu riskant gewesen wäre. Die Galerie
befand sich im Eigentum des in Zug wohnhaften Ehepaars Fritz und Editha Kamm und stand unter der künstlerischen
Leitung von Fritz Wotruba, die wesentlich an der Vermittlung von Gerstls Œuvre beteiligt waren. Die Familien Kamm
und Leopold standen von den frühen 1970er- bis in die 1990er-Jahre in regem Austausch. Schließlich war
es der Sammler Rudolf Leopold, der in Qualität und Umfang die weltweit bedeutendste Gerstl-Sammlung zusammentrug
und durch die Gründung des Leopold Museum der Öffentlichkeit zugänglich machte. Ergänzt durch
neue Dauerleihgaben, umfasst der Bestand nun 19 Werke.
Kurze Schaffensphase voller Brüche und Umschwünge
Zahlreiche Widersprüche lassen sich in Richard Gerstls Œuvre festmachen: So sind die deskriptiv-realistischen
Tendenzen seiner pointillistischen Phase vermutlich beeinflusst von der Impressionisten-Schau 1903 in der Secession.
Im Jahr darauf mag er ebendort die Werke von Munch und Hodler für sich entdeckt haben, was symbolistische
Elemente in seiner Malerei vermuten lassen. Die Van Gogh Präsentation von 1906 in der Galerie Miethke könnte
zur impulsiv-dynamisierenden Flecken- und Strichmalerei seiner zur Abstraktion hinstrebenden Werke ab 1907 geführt
haben.
„Sein Werk erstreckt sich über rund sechs Jahre und ist geprägt von schnell durchlaufenen, gegensätzlichen
Entwicklungsphasen und stilistischen Umschwüngen, die sich durch Vor- und Rückgriffe auszeichnen. Das
Aneignen von Vorbildern, was ihn immer wieder auch zur Revision seines Umgangs mit Farbe und Form zwang, sowie
das Konterkarieren stilistischer Anregungen schienen seinen ästhetischen Weg zu bestimmen. Betrachtet man
sein Schaffen im Kontext von Wien um 1900, in dem die Idee des Gesamtkunstwerks – eingebettet im hyperästhetisierten
und überkultivierten Jugendstil – omnipräsent war, wird seine progressive künstlerische Haltung
als Pionier des Expressionismus offensichtlich. Kein Wunder also, dass dieser ungestüm-widerständige,
zugleich mit Talent, Intelligenz und seismografischem Gespür ausgestattete Mensch und Maler im damaligen Wiener
Umfeld nicht reüssieren konnte", so Hans-Peter Wipplinger.
Gegenüberstellungen im Leopold Museum
Heute ist Gerstl in Wien kein Unbekannter mehr, sondern zählt neben Oskar Kokoschka und Egon Schiele zum
Dreigestirn des österreichischen Expressionismus. Der Künstler hat sich als zentrale Säule der Avantgarde
in die Kunstgeschichte eingeschrieben – er hat herausragende Gemälde hinterlassen, die auch den internationalen
Vergleich nicht scheuen müssen und Inspiration sind für Gegenwarts-KünstlerInnen wie etwa Martha
Jungwirth, Georg Baselitz oder Günter Brus. Im Leopold Museum treten rund 50 Gemälde und Zeichnungen
Gerstls – bei einem gesicherten Œuvre von rund 70 Werken – in einen Dialog mit Exponaten der klassischen Moderne
(u. a. von Vincent van Gogh, Edvard Munch, Pierre Bonnard oder Lovis Corinth), der internationalen Kunst nach 1945
(u.a. von Willem de Kooning, Francis Bacon oder Eugène Leroy) und der österreichischen Gegenwartskunst
(u.a. von Arnulf Rainer, Günter Brus, Herbert Brandl oder Martha Jungwirth). Diese Gegenüberstellungen
ermöglichen neue Sichtweisen und Deutungsmuster der Kunst von Richard Gerstl. Insgesamt sind 205 Exponate
zu sehen, darunter Gemälde, Arbeiten auf Papier, Fotografien, Skulpturen sowie ein Filmbeitrag. Ein Ausstellungssaal
ist anhand von zahlreichen Archivalien der Aufarbeitung von Leben und Werk des Künstlers gewidmet.
Kooperation mit Kunsthaus Zug – Integration des Breicha-Archivs – Ausblick
Der Kernbestand der Präsentationen in Wien und Zug ist weitgehend ident, wobei das Leopold Museum jene Inspirationen
akzentuiert, welche die frühe Moderne auf Gerstl ausübte, während das Kunsthaus Zug die künstlerische
Rezeption durch Wiener Informel und Aktionismus betont. So bieten beide Museen – jene Häuser, in deren Sammlungen
sich die umfangreichsten Bestände von Werken Gerstls befinden – ergänzende Einblicke. Auch künftig
haben es sich beide Institutionen zum Ziel gemacht, das Œuvre Gerstls zu erforschen und zu vermitteln. Im Leopold
Museum wird zu diesem Zweck ein eigenes Archiv eingerichtet; Basis dieses Zentrums sind die umfassenden Archivbestände
des Gerstl-Forschers Otto Breicha, die dem Leopold Museum dank der Initiative der Familie Breicha zur Verfügung
gestellt wurden.
Publikation
Begleitend zur Ausstellung ist ein Katalog mit Beiträgen von Kamila Gora, Matthias Haldemann, Jane Kallir,
Leonora Kugler, Diethard Leopold, Rainer Metzger, Dominik Papst und Hans-Peter Wipplinger erschienen. Das Spektrum
der Essays reicht von Grundlagen zur Künstlerbiografie, zur Werkchronologie, zu Provenienzen und zum Malprozess
über Fragen des bildnerischen Konzepts, des kulturellen Kontexts und der künstlerischen Rezeption bis
zu den eng verknüpften Sammlungsgeschichten von Rudolf Leopold und Fritz Kamm.
Feierliche Eröffnung der Ausstellung
Der Einladung zur Eröffnung, die feierlich von Direktor und Kurator Hans-Peter Wipplinger und Kurator
Diethard Leopold in Anwesenheit der kaufmännischen Direktorin Gabriele Langer begangen wurde, folgten rund
1000 BesucherInnen, darunter Elisabeth Leopold, Josef Ostermayer, Jane Kallir, Agnes Husslein-Arco, Waltraud Leopold,
Leonora Kugler (Kunsthaus Zug), Georg und Eveline Pölzl, Ewald Novotny, Peter Umundum, Sergio Barbanti, Philipp
Breicha, Ernst und Brigitte Ploil, Richard Grubman und Sylvia Kovacek, Günther und Helga Fischer, Regina Ploner,
Bernhard Heinz, Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld, Martha Jungwirth, Rudolf Goessl, Theo Altenberg, Therese
Schulmeister, Walter Vopava, Markus Huemer, Alois Mosbacher, Eva Schlegel, Stella Rollig und Peter Hauenschild,
Herwig Kempinger, Christian Bauer, Sandra Tretter und Peter Weinhäupl, Verena Traeger, Therese Muxeneder,
Ebi Kohlbacher und Lui Wienerroither, Sylvia Steinek, Julius Hummel, Florian Kolhammer, Werner Gradisch, Michael
Haas, Maxi Blaha, Sona MacDonald, Helene von Damm, Hans Raumauf, Ingrid Turkovic-Wendl, Gustav und Brigitte Huber,
Uwe Schögl, Ursula Storch, Rainer Metzger und Daniela Gregori, Hubert Klocker, Patrick Werkner und Thomas
Zaunschirm.
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