Der Bundespräsident erteilt Sebastian Kurz den Auftrag zur Regierungsbildung.
Wien - Am 7. Oktober hatte Bundespräsident Alexander Van der Bellen den Bundesparteiobmann der ÖVP,
Sebastian Kurz, in seine Amtsräume in der Wiener Hofburg geladen, um ihm den Auftrag zur Bildung einer neuen
Bundesregierung zu erteilen. Kurz ging mit seiner ÖVP mit einem Stimmenanteil von 37,5 Prozent der Stimmen
als Sieger aus der vergangenen Nationalratswahl hervor. Lesen Sie hier die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut
(Quelle: prk):
Guten Tag meine Damen und Herren,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger zuhause.
Seit letzten Donnerstag liegt das endgültige Ergebnis der Nationalratswahl vor. Die Zeit seither konnte ich
sinnvoll nutzen, um eingehende Gespräche mit den Vorsitzenden aller im Nationalrat vertretenen Parteien zu
führen.
In diesen Gesprächen habe ich alle ersucht, in den nun folgenden möglichen Verhandlungen das Wohl Österreichs
über allfällige parteitaktische Interessen zu stellen.
Weiters habe ich den Eindruck gewonnen, dass die ÖVP in Verhandlungen eine von einer Mehrheit im Parlament
unterstützte Bundesregierung zustande bringen kann.
Daher betraue ich Sie, Herr Bundesparteiobmann Kurz, als Vorsitzenden der stimmenstärksten Partei mit der
Erstattung von Vorschlägen zur Bildung einer neuen Bundesregierung; im Sinne des Art. 70 Abs. 1 der Bundesverfassung.
Meine Damen und Herren,
ich lese und höre in den Medien manchmal, dass ich in Sachen Regierungsbildung sehr klare Vorstellungen hätte
und was ich mir so alles wünsche.
Nun, einen Wunsch habe ich sicher. Und darüber habe ich mit allen Parteiobleuten gesprochen:
Unabhängig von den Parteifarben in der Regierung wünsche ich mir eine rot-weiß-rote Regierung:
für ein starkes Österreich in einem gestärkten Europa. Einem Europa, das an seiner Weltpolitikfähigkeit
arbeitet.
Mir ist nicht so wichtig, wermit wem regiert, mir ist vielmehr wichtig, wer wofür regiert.
Was liegt im Interesse unseres Landes?
Erstens: Der Umgang mit der drohenden Klimakatastrophe sollte ganz oben auf der Agenda stehen muss. Erfreulicherweise
haben alle Parteien bereits im Wahlkampf konkrete Maßnahmen zu diesem Thema formuliert.
Klimaschutz ist keineswegs eine österreichische Angelegenheit allein. Alle Regierungen in Europa und der Welt
beschäftigt das Thema.
Zweitens: In der österreichischen Bundesverfassung ist die Unabhängigkeit der Justiz ein hohes Gut. Auch
in allen Fragen der Sicherheit ist hohe Sensibilität angebracht. Ich werde daher auf eine sorgfältige
inhaltliche, politische und personelle Behandlung der Sicherheits- und Justizfragen im Rahmen des Regierungsbildungsprozesses
höchsten Wert legen.
Drittens habe ich im Gespräch mit Herrn Parteiobmann Kurz die zentralen Themen Europa und die wirtschaftliche
Entwicklung Österreichs angesprochen. Die Konjunkturlage trübt sich ein, darauf wird Rücksicht zu
nehmen sein. Der Erfolg österreichischer Unternehmen unter den Gesichtspunkten Innovation und Digitalisierung
ist eine große gesamtstaatliche Aufgabe. Voraussetzung dafür ist ein moderner Bildungs- und Forschungssektor.
Ich möchte zudem daran erinnern, dass viele österreichische Unternehmen im Export tätig sind, und
ein gemeinsames Europa dafür wesentlich ist.
Und last not least:
Die amtierende Bundesregierung besteht je zur Hälft aus Frauen und Männern. Ich fände es eine gute
Idee, wenn auch in der künftigen Regierung der Frauenanteil entsprechend hoch ist.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an alle Parteien, im Sinne eines Vertrauensaufbaus, ehrlich, ernsthaft
und ohne versteckte Agenda zu verhandeln.
Die nun folgenden Wochen sind wichtig für Österreich, denn jetzt werden die Weichen für unsere gemeinsame
Zukunft gestellt. Türen, die jetzt zugeschlagen werden, werden für lange Zeit verschlossen bleiben. Brücken,
die jetzt gebaut werden, können und müssen für lange Zeit tragfähig bleiben.
Der Wahlkampf ist vorbei, die Zeit der Lösungen ist jetzt gekommen. Und im Finden von Lösungen sind wir
gut in Österreich. Aus eigener Erfahrung würde ich sagen:
Die gute österreichische Lösung entsteht, wenn man erkennt, dass es neben der eigenen Position und der
des Verhandlungspartners noch eine dritte gibt, die womöglich noch besser ist als die beiden anderen. Weil
es eine gemeinsame Lösung ist, eine im besten Sinne des Wortes österreichische Lösung.
Wir haben erkannt und gelernt, dass das Leben nicht nur aus Schwarz oder Weiß besteht, sondern auch aus unendlich
vielen Farbtönen dazwischen. Und deswegen ist es gute österreichische Tradition, einander zuzuhören
und aufeinander zuzugehen. Auf diese Weise haben wir es weit gebracht.
Also, an alle verhandelnden Parteien:
Stecken Sie sich Traubenzucker ein, schauen Sie, dass es genug Kaffee gibt. Und vor allem: finden Sie gemeinsam
die beste Lösung für Österreich.
Mit Ihnen, Herr Parteiobmann Kurz,
habe ich vereinbart, dass es zwischen uns in den kommenden Tagen und Wochen regelmäßigen Austausch geben
wird. Ich habe Sie gebeten, dass Sie mich über die Fortschritte Ihrer Verhandlungen laufend informieren. Ich
persönlich werde auch weiter den Kontakt mit allen anderen Parteien suchen.
Sehr geehrter Herr Parteiobmann Kurz!
Sie stehen jetzt vor einer verantwortungsvollen Aufgabe. Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen und viel Kraft.
Ich hoffe, Sie werden eine gute Lösung für die kommenden Regierungsverhandlungen finden.
Danke.
|