Die Gedenkfeier für die in den Jahren 1940 bis 1944 in Hartheim ermordeten Menschen findet
alljährlich am 1. Oktober statt.
Hartheim/Linz (lk) - Der 1. Oktober steht symbolisch für den Beginn der NS-Euthanasie – Adolf Hitler
verfasste seinen „Gnadentoderlass“ Anfang Oktober 1939. Dieser markiert den Beginn der Ermordung von psychisch
kranken und behinderten Menschen im Dritten Reich und jährte sich heuer zum 80. Mal.
Zahlreiche Ehrengäste, darunter Angehörige und Nachkommen von Opfern der NS-Euthanasie sowie diplomatische
Vertreter aus 18 Ländern – unter ihnen sieben Botschafterinnen und Botschafter – fanden sich im Lern- und
Gedenkort Schloss Hartheim ein, um der rund 30.000 Opfer zu gedenken. Insgesamt nahmen mehr als 170 Personen an
der Veranstaltung teil.
Nach der Begrüßung durch die Obfrau des Vereins Schloss Hartheim, Konsulentin Dr. Brigitte Kepplinger,
betonte Landeshauptmann Mag. Thomas Stelzer die Bedeutung des Gedenkens an die Verbrechen und ihre Opfer in Hartheim.
Oberösterreich war Ort von Massenverbrechen während der NS-Zeit und auch Heimat von Täterinnen und
Tätern – daraus leite sich die Verantwortung ab, die Ereignisse aufzuarbeiten und der Opfer zu gedenken. Die
Zweite Republik und das Land Oberösterreich wurden laut Landeshauptmann Mag. Stelzer im Jahr 1945 als „aktiver
Gegenentwurf zum Nationalsozialismus“ begründet. Dieser Auftrag werde auch heute noch wahrgenommen. So wird
beispielsweise derzeit die Ausstellung „Wert des Lebens“ im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim aus Mitteln des
Landes Oberösterreich neu gestaltet. Die Eröffnung soll im Frühjahr 2020 erfolgen.
Die Gedenkrede hielt anschließend der Rektor der Johannes Kepler Universität Univ.-Prof. Dr. Meinhard
Lukas. In eindrücklichen Worten erinnerte er an die Zeit, in der Menschen, die von der gesellschaftlichen
Norm abwichen nur mehr als Kostenfaktoren betrachtet wurden. Ihnen wurden die Würde und das Recht auf das
Leben abgesprochen. Die anhaltende aktuelle Relevanz dieser historischen Ereignisse zeigte Rektor Dr. Lukas anhand
persönlicher und familiärer Bezüge zu den Themen Behinderung und Krankheit auf. Er wandte sich gegen
eine „bequeme Nie-wieder-Rhetorik“ und betonte: „Wer sich nur im historischen Frame des Nationalsozialismus bewegt
und sich redegewandt davon distanziert, mag sich die undankbare Auseinandersetzung mit den sozialen Wunden der
Gegenwart ersparen.“ Rektor Dr. Lukas stellte auch die Frage „wie Landsleute, wie Vorfahren an diesem Ort zu Massenmördern,
Beitragstätern, Ermöglichern oder Wegsehern, also schlicht zu Unmenschen wurden. Wie konnte sich auf
ihrem Gewissen, ja ihrer Seele eine Hornhaut aufbauen, an der das schlimmste Leid abprallte, obwohl sie zugleich
liebevolle Familienväter, gefühlvolle Freunde und gläubige Kirchgänger waren? Schlummert dieser
Dämon auch in uns, in unserer Gesellschaft?“ Um ein Lernen aus der Geschichte ernst zu nehmen solle man auf
die „winzig kleinen und weniger kleinen Schritte, die heute getan werden“ achten, auf die zunehmende Verrohung
der Sprache im Miteinander und im politischen Diskurs. Hass im Netz, das Infragestellen von Menschenrechten auch
durch Politiker und Angriffe auf die Menschenwürde bestimmter Gruppen seien aktuelle Bedrohungen unserer Demokratie
und Verfassung. Zum Abschluss stellte Rektor Dr. Lukas fest, „dass unser Umgang mit den schutzbedürftigen
Menschen etwas darüber aussagt, was wir selbst als Menschen sind.“
Im Anschluss wurden auf dem Friedhof der Opfer, der sich auf der Ostseite des Schloss befindet, von Vertretern
der katholischen und der evangelischen Kirche Gebete gesprochen. Darauf folgte die Kranzniederlegung. Die diplomatischen
Vertreter aus 18 verschiedenen Ländern, die Kränze am Grabmal niederlegten, zeigten auf eindrucksvolle
Weise den Stellenwert Hartheims als europäischer Erinnerungsort.
Für die musikalische Gestaltung der Gedenkfeier sorgte die Gruppe „Chor singa. inklusives singen“ des Instituts
Hartheim. Die Gruppe umfasst Menschen mit und ohne Behinderungen, die gemeinsam singen und musizieren.
Zum Ort und seiner Geschichte
In Schloss Hartheim in Alkoven (OÖ) war von 1940 – 1944 eine NS-Euthanasieanstalt untergebracht, in der nahezu
30.000 Menschen ermordet wurden. Sie waren teils Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten sowie Betreuungseinrichtungen,
teils arbeitsunfähige KZ-Häftlinge aus den Lagern Mauthausen, Gusen, Dachau und Ravensbrück sowie
ZwangsarbeiterInnen.
1995 wurde der Verein Schloss Hartheim gegründet, dessen Ziel es war, in Schloss Hartheim einen angemessenen
Ort der Erinnerung, des Gedenkens und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu schaffen. Im Jahr 2003 wurde
aus Mitteln des Landes OÖ und des Bundes mit der Gedenkstätte und der Ausstellung „Wert des Lebens“ der
Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim errichtet.
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Die Täter von Hartheim und was wir als Menschen sind
Die Johannes Kepler Universität hat den Wortlaut der Rede von Rektor Meinhard Lukas anläßlich
der Gedenkveranstaltung zur Verfügung gestellt:
Der Mercedes Omnibus trägt das Kennzeichen der Reichspost. Er hält an der Westseite des Schlosses.
Der Holzschuppen schützt vor neugierigen Blicken. Angestellte, die sich Pfleger nennen, empfangen die Menschen
im Bus, begleiten, nein eskortieren sie auf ihrem letzten Weg. Auch der kleine Seppi muss sich anstellen. Er hat
nur seine Puppe, an der er sich festklammert. Seine Eltern wissen von all dem nichts, glauben ihn in den besten
Händen im Kloster Mariathal. Bei Seppi gab es Probleme bei der Geburt. Er ist halt bei allem ein bisschen
langsamer. Zu langsam offenbar.
Es geht durch einen schmalen Seiteneingang, den mit Brettern verschlagenen Arkadengang entlang bis in den Auskleideraum.
Damit alles seine Ordnung hat, sammeln und registrieren die sogenannten Pfleger die Kleidungsstücke und die
wenigen Habseligkeiten der inzwischen nackten Ankömmlinge. Auch Seppi muss sich von seiner Puppe trennen.
Im Untersuchungsraum treffen die verängstigten Menschen auf ihren Arzt. Da steht die Diagnose "unwertes
Leben" längst fest. Der Arzt, der einst einmal einen Eid geschworen hat, untersucht seine Patienten,
nein seine Opfer, nur um sein späteres Tun zu rechtfertigen und zu verschleiern. Und um das Verwertbare des
"Unwerten" zu sichern. Goldzähne sollen nicht verloren gehen.
Nun wird es ernst. Es geht durch eine niedrige, schmale Stahltüre in eine gekachelte Kammer, kaum größer
als 20 m². Drei Duschköpfe wollen den Eindruck eines Duschraums erwecken. Und schon schließt sich
die Türe hinter den dicht gedrängten nackten Menschen. Seppi tut, was er immer tut, wenn er verängstigt
ist. Er hält sich die kleinen Hände vor seine Augen. Im angrenzenden Technikraum öffnet der Arzt
das Ventil an der Gasflasche. Es dauert 15 Minuten, bis alle 60 Menschen tot sind. "Gnadentod" heißt
das. Von nun an kümmert sich der Brenner, ja er wird wirklich Brenner genannt, um die nackten Leichname. Nachdem
alle Goldzähne entfernt sind, vollbringen Krematorium und Knochenmühle ihr routiniertes Werk. Was bleibt,
ist die Asche von 60 Menschen, die der Gesellschaft nicht mehr zur Last fallen. Auch der kleine Seppi nicht.
Sein noch so junges Leben wich zu weit ab von der Norm, vom deutschen Ideal. So wie das der anderen 30.000 Menschen,
die hier im Schloss, hier in unserer Heimat den Weg in die Gaskammer antreten mussten. Die Schergen von Hartheim
haben darüber penibel Buch geführt. Bis auf die letzte Reichsmark genau haben sie berechnet, was sie
durch ihre Taten der "Volksgemeinschaft" an künftigem Aufwand erspart haben. Das "unwerte"
Leben als Kostenfaktor.
Kostenfaktor? Behinderte als Kostenfaktor, als Budgetposten? Als Posten eines Sparbudgets? Das klingt erschreckend
aktuell, erschreckend zeitgemäß. Je anonymer Sozialleistungen daherkommen, desto profaner ist unsere
volkswirtschaftliche Logik, desto entmenschlichter ist die Gesamtrechnung. Tobias Moretti hat dieses Phänomen
hier in Hartheim in aller Schärfe formuliert: "Das Begriffspendant für das, was früher Sozialhygiene
hieß, heißt heute, überspitzt formuliert, Gesundheitsökonomie." Und doch gibt es heute
einen gesellschaftlichen Konsens zum Schutz des Lebens in all seiner Vielfalt. Die Würde des Menschen, jedes
Menschen, ist unantastbar. Das ist Prinzip unserer Verfassung. Ein Prinzip, das zuletzt im Nationalsozialismus
gänzlich außer Kraft gesetzt war.
Spätestens jetzt ist die Versuchung groß, in die gewiss richtige und wichtige, aber doch etwas bequeme
Nie-Wieder-Rhetorik einzustimmen. Wer sich nur im historischen Frame des Nationalsozialismus bewegt und sich redegewandt
davon distanziert, mag sich die undankbare Auseinandersetzung mit den sozialen Wunden der Gegenwart ersparen.
Noch vor einigen Jahren wäre ich dieser Versuchung gewiss erlegen, zumal als Spross einer Leistung-muss-sich-wieder-lohnen-
Gesellschaft. Zwei Schicksalsschläge später haben sich bei mir Standort und Standpunkt gravierend verändert.
Als Vater einer wunderbaren Tochter mit Trisomie und als Patient mit terminalem Nierenversagen, kurzum mit einer
schweren Behinderung, drängt mein Gedenken in die Gegenwart, in die Zukunft.
Schon zum Schutz vor uns selbst müssen wir uns dafür interessieren, wie Landsleute, wie Vorfahren an
diesem Ort zu Massenmördern, Beitragstätern, Ermöglichern oder Wegsehern, also schlicht zu Unmenschen
wurden. Wie konnte sich auf ihrem Gewissen, ja ihrer Seele eine Hornhaut aufbauen, an der das schlimmste Leid abprallte,
obwohl sie zugleich liebevolle Familienväter, gefühlvolle Freunde und gläubige Kirchgänger
waren? Schlummert dieser Dämon auch in uns, in unserer Gesellschaft?
"Der Weg zur Barbarei der NS-Zeit besteht aus unzählig vielen und winzig kleinen Schritten. Und wir können
die winzig kleinen Schritte nachvollziehen, die durch das 18. Und 19. Jahrhundert trippelten, immer größer
wurden und schneller, bis sie schließlich die Tore von Auschwitz, Treblinka, Majdanek und Mauthausen erreichen",
sagt Michael Köhlmeier in seiner Rede im Linzer Rathaus. Um uns dann mit all seinem Sprachgefühl zu verdeutlichen,
warum wir uns mit den Tätern von Mauthausen und Hartheim vergleichen sollen, ohne uns gleichzusetzen. Ich
zitiere noch einmal Köhlmeier:
"Wie geht aus der Geschichte lernen? Wie soll man aus der Geschichte lernen, wenn man ‚heute' nicht mit ‚damals'
vergleichen soll? Wie geht das dann noch? Wieder haben wir es mit einem kleinen, winzig kleinen Schritt zu tun:
Indem ich ‚vergleichen' und ‚gleichsetzen' nicht voneinander unterscheide, sondern als Synonyme verwende, unterbinde
ich letztlich jedes Lernen aus der Geschichte!"
Achten wir also auf die winzig kleinen und weniger kleinen Schritte, die heute getan werden. Fragen wir mit Köhlmeier,
ob diese Schritte in eine ähnliche Richtung weisen, auch wenn wir von der Barbarei von Hartheim weit entfernt
sind. Machen wir uns bewusst, was die Voraussetzungen der Massenmorde hier waren: einerseits ein bedingungsloser
Autoritätsglaube und andererseits die Entmenschlichung der Opfer, das Ausscheiden der Beeinträchtigten
aus der Species.
Dann spricht aber alles dafür, gerade heute besonders wachsam zu sein. Der Ruf nach Autorität, der Zuspruch
zu Populisten anstelle des mühseligen Aushandelns konträrer Positionen wird auch in Europa immer lauter.
Selbst in Österreich halten nur noch 80 Prozent die Demokratie für die beste Regierungsform und gar 43
Prozent der Österreicher wünschen sich einen starken Mann. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen
Umfrage des SORA-Instituts im Jahr 2017.
Damals war in Österreich noch die Migration das bestimmende Thema. Die Zahlen mögen ganz aktuell - bedingt
durch den Klimafokus und ungeheuerliche Skandale - weniger ausgeprägt sein, Grund zur Besorgnis sind sie weiterhin.
Viel schwerer wiegt aber heute, wie unser humanes Menschenbild, eine Errungenschaft der Aufklärung, einmal
mehr ins Rutschen gerät.
Dramatisches Anschauungsmaterial dafür sind mehr oder weniger anonyme Hasspostings im Internet. Sie richten
sich gegen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Rasse und Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Orientierung, ihrer
sozialen Bedürftigkeit und, und, und.
Hassposter gibt es in allen Lebenslagen.
Ich will hier nur zwei Beispiele nennen: Zum einen das eines Lehrlings, der das Bild eines Flüchtlingskinds
kommentierte, das in der Hitze durch einen Wasserschlauch erfrischt wird. Ich zitiere: "Flammenwerfer währe
(sic) da die bessere Lösung." Ein weiteres Beispiel betrifft die Führungskraft eines großen
Konzerns. Sie kommentierte einen Bericht, wonach es vor dem Erstaufnahmelager Traiskirchen gebrannt hat. "Was?
vor den Mauern. In den Gebäude (sic) wäre besser. schlecht gezielt.", schrieb sie wörtlich.
Solche Postings sind leider keine Ausnahmeerscheinung.
Aber auch die österreichische Innenpolitik lässt immer wieder tief blicken. Ein Landesparteiobmann aus
Niederösterreich bezeichnete Asylwerber als "Erd- und Höhlenmenschen", ein Landesrat nannte
Homosexuelle "Schwuchteln", sprach andernorts über nicht förderungswürdige "Dreckskünstler"
und sagte über die damalige Innenministerin, sie habe "… den Flüchtlingen noch die Jause zugeworfen,
damit sie gestärkt sind fürs Vergewaltigen". Ein Innenminister wollte Flüchtlinge "konzentriert
an einem Ort halten" und ein Vizebürgermeister verglich in einem Gedicht Menschen mit Ratten, sprach
gar von Ratten mit Kanalisationshintergrund. Selbst ein Ex-Vizekanzler wurde in einer Dokumentation aus der Zeit
vor seinem Regierungsamt mit einem bemerkenswerten Satz zitiert. Es ging dabei um die Abschiebung von Migranten,
die dieser Politiker mit einem Transportflugzeug erledigt wissen wollte. Und dann wörtlich: "Da können
sie dann schreien und sich an-urinieren. Da störts dann niemanden."
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Ich könnte noch mehr "Einzelfälle" nennen. "Einzelfälle", die eines gemein
haben: Die Sprache schafft eine gefährliche Distanz, würdigt eine Gruppe von Menschen herab, lässt
kaum eine Empathie aufkommen. Es sind hassgetriebene Aussagen, sei es der eigene Hass oder der mutmaßliche
Hass der Anhänger. Hass ist ein gefährlicher Ratgeber. Das ist schon in Hannah Arendts Buch über
die Ursprünge totaler Herrschaft nachzulesen. Ihre Beobachtung bezog sich auf die Anfänge des Nationalsozialismus,
klingt aber sehr nah:
"Der Haß konnte sich auf niemand und nichts wirklich konzentrieren; er fand niemanden vor, den er verantwortlich
machen konnte (…). So drang er in alle Poren des täglichen Lebens und konnte sich nach allen Richtungen verbreiten,
konnte die phantastischsten, unvorhersehbarsten Formen annehmen; nichts blieb von ihm geschützt, und es gab
keine Sache in der Welt, bei der man sicher sein konnte, daß der Haß sich nicht plötzlich auf
sie konzentrieren würde."
Wir müssen uns der Fratze des Hasses mit aller Macht entgegenstellen, dem Hassgefühl in uns selbst, dem
Hass in der Gesellschaft. Dem Hass auf Flüchtlinge, Sozialbedürftige, Andersdenkende, Politiker, Journalisten
usw. Immer dann, wenn in der Vergangenheit der Hass zum Flächenbrand wurde, war es bereits zu spät. Stimulieren
wir daher das Gewissen und nicht den Hass. Es ist das Gewissen, das unsere Identität prägt, schrieb der
Soziologe Niklas Luhmann. Das Verhalten der Täter von Hartheim sagt daher etwas darüber aus, was sie
als Menschen waren. Dann sagt aber auch unser heutiger Umgang mit Schutzbedürftigen etwas darüber aus,
was wir als Menschen sind.
Dieser Umgang ist meist geprägt von einer intuitiven Zurückhaltung und einer großen Distanz. Die
meisten von uns haben kaum spürbaren Kontakt mit beeinträchtigten Menschen. Das ist natürlich ganz
anders, was die Pflege alter Menschen betrifft. Diesem Thema wird daher zu Recht große Aufmerksamkeit geschenkt.
Ansonsten fließt unsere in Sozialleistungen gegossene Zuwendung aber in Bereiche, die wir gerne verdrängen.
Wer besucht schon Einrichtungen für Menschen mit Behinderung? Das bleibt nicht ohne Wirkung. Kommt es hier
zu Kürzungen, sind es naturgemäß selten die Betroffenen, die sich zur Wehr setzen, weil sie es
oftmals gar nicht können. Zu Wort melden sich dann nur die karitativen Organisationen. Und auch ihnen weht
zunehmend ein rauerer Wind entgegen. Ich erinnere hier nur an das Dictum eines Generalsekretärs, der der Caritas
unter anderem "Profitgier" vorwarf.
Natürlich ist es legitim, auch bei der Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung Effizienz einzufordern.
Gerade hier braucht es aber ein besonderes Augenmaß. Aktuelle Budgetkürzungen haben - wie ich höre
- eine beachtliche Wirkung. Wenn sich in einer Behinderteneinrichtung der wöchentliche Ausflug am Sonntag
nicht mehr finanzieren lässt, bekommen das die Betroffenen empfindlich zu spüren. Schließlich war
es gerade dieser Ausflug, auf den sie sich Woche für Woche gefreut haben. Nicht zu reden davon, wenn Sparmaßnahmen
die schulische Integration treffen.
Bei all dem kann ich nur andeuten, wie weit Österreich bei der Förderung von Kindern mit Entwicklungsstörungen
zurückhängt. Während allein Bayern an die 20 Sozialpädiatrische Zentren aufzuweisen hat, also
Zentren mit spezialisierten Kinderärzten, Physiotherapeuten, Logopäden und Pädagogen an einem Ort,
gibt es in Österreich kaum ein vergleichbares Zentrum. Das bedeutet für betroffene Eltern nicht weniger
als einen Spießrutenlauf auf der Suche nach geeigneten Medizinern und Therapeuten. Ich weiß, wovon
ich spreche. Nicht auszudenken, wie es betroffenen Eltern geht, die nicht über die Möglichkeiten eines
Rektors verfügen. Die Folgen sind verheerend, weil gerade bei Kindern mit Beeinträchtigung die Förderung
in den ersten Jahren über ihre Entwicklung entscheidet.
Was dadurch ausgelöst wird, ist ein Kreislauf, ich vermeide bewusst das Wort Teufelskreislauf, dem man sich
gerade an diesem Ort kaum anzusprechen traut und doch als Vater einer Tochter mit Trisomie nicht aussparen sollte.
Die Art, wie wir mit beeinträchtigten Menschen umgehen, ist nicht selten ein Grund, warum sich werdende Eltern
schlicht nicht vorstellen können, ein Kind mit Behinderung zur Welt zu bringen. Damit betrete ich ein moralisches
und ideologisches Minenfeld, will ich doch über nicht weniger sprechen als über die Routine der Pränataldiagnostik.
In den allermeisten Fällen dient diese Diagnostik allein dazu, die Eltern mit der recht verlässlichen
Prognose zu beruhigen, dass sie ein gesundes Kind zur Welt bringen werden. Was aber, wenn pränatal eine Behinderung
oder auch nur eine mögliche Behinderung diagnostiziert wird? Die Eltern müssen dann innerhalb weniger
Tage eine der schwierigsten Entscheidungen überhaupt treffen. Man will sich die Nöte dabei nicht vorstellen.
Neun von zehn Müttern, die während der Schwangerschaft von einer Chromosomenanomalie ihres Babys erfahren,
tragen das Kind nicht aus, Tendenz steigend.
Der Gesetzgeber hat die Entscheidung aus gutem Grund der Mutter überantwortet und sie doch zugleich unvermeidlich
überfordert. Wer denkt schon daran. das Embryonen in der 13. Woche bereits zu groß sind, für eine
Ausschabung. Dann muss bei einem Abbruch das Kind oftmals mit einer Giftspritze getötet und tot zur Welt gebracht
werden. Wer denkt schon daran, was das für eine Mutter heißt. Lassen wir daher eine dieser Mütter
zu Wort kommen:
"Es war nur ein kurzer schmerzhafter Moment. An den Schenkeln war es warm und feucht. Fruchtwasser. Sie [Die
Hebamme] stellte meine Beine auf. Nahm es ganz sanft in Empfang, das Kind. Fragte, ob ich es sehen wolle. Nein.
Ja. Nein. Sagte ich. Und dann legte sie es in meine Hand, wo es gerade so hineinpasste. Das Mädchen. Und sie
lag da, als würde sie schlafen, meine Tochter, warm und weich und schön irgendwie. Und ich hab mich bei
ihr entschuldigt."
Warum ich uns das heute auch noch zumute? Weil es Teil unserer Gesellschaft, weil es ein verdrängter Teil
unserer Gesellschaft ist. Weil ein reflektiertes Gedenken in Hartheim gerade dieses Thema nicht aussparen darf.
Und ich bleibe dabei. Natürlich soll eine betroffene Mutter selbstbestimmt höchstpersönlich entscheiden.
Eine humane Gesellschaft muss aber zugleich alles dafür tun, dass diese Entscheidung auf Grundlage einer bestmöglichen
Information und ohne sozialen Druck fällt. Womit wir wieder bei der Frage sind, wie wir mit beeinträchtigten
Menschen umgehen? Was also können Eltern erwarten, wenn sie sich gegen einen Schwangerschaftsabbruch und für
das Leben mit einem behinderten Kind entscheiden?
Unsere höchstpersönliche Erfahrung ist nicht ermutigend. Auch wir haben uns natürlich für die
Pränataldiagnostik entschieden, als meine Frau zum ersten Kind schwanger war. Der Befund war unauffällig.
Erst nach der Geburt wurde Trisomie diagnostiziert. Die Art, wie uns das mitgeteilt wurde, werden wir nie vergessen.
Ich stand mit meiner Tochter am Arm neben meiner noch sehr geschwächten Frau. In dieser Situation konfrontierte
uns eine völlig überforderte junge Ärztin in ganz eigenartiger Weise mit der Diagnose: Sie fragte
uns aus heiterem Himmel in vorwurfsvollem Ton, ob wir es denn verabsäumt hätten, den Embryo auf Gendefekte
zu untersuchen. Erst langsam wurde uns klar, was sie uns eigentlich sagen wollte. In dieser Schocksituation begannen
wir, uns zu verteidigen, erläuterten, dass wir alles wie vorgesehen abgespult haben.
Erst heute verstehe ich, was diese schreckliche Erfahrung über unseren Umgang mit beeinträchtigten Menschen
aussagt. In Zeiten der Pränataldiagnostik sind diese Menschen oftmals nur eine vermeidbare oder eben unvermeidbare
Panne im medizinischen Hochleistungssystem. So fühlten wir uns übrigens auch, als meine Frau die zuständige
Primaria einige Tage später nach Therapiemöglichkeiten fragte. "Sie müssen sich mit Ihrer Lage
abfinden, schließen Sie sich einer Selbsthilfegruppe an", war die patzige Antwort. Das war nicht nur
gefühllos, das war auch schlicht falsch. Gerade bei Kindern mit Trisomie kann man ganz erstaunliche Ergebnisse
erzielen, wenn man vom ersten Tag an mit einer Physiotherapie gegen die typische Muskelschwäche ankämpft.
Und die Eltern haben dann plötzlich eine Perspektive in ihrer scheinbar perspektivenlosen Situation.
Viel schlimmer als unsere persönliche Erfahrung ist ein Tweet, den in Deutschland eine liberale Bundestagspartei
vor einigen Monaten absetzte. In diesem Tweet forderte die Partei, dass der Trisomie-21- Test Kassenleistung werden
müsse. Darüber kann man durchaus diskutieren. Indiskutabel und menschenverachtend ist es aber, dass diese
Forderung mitten auf einem Bild prangt, das ein Kind mit Trisomie 21 zeigt, das sich liebevoll an seine Mutter
kuschelt. Die Botschaft ist eindeutig: Hätte die Frau einen pränatalen Trisomie- Test auf Krankenschein
machen können, wäre das Leben ihres beeinträchtigten Sohnes vermeidbar gewesen. Vermeidbar, weil
das Leben dieses Kindes unwert ist?
Ich betone einmal mehr: Die Würde des Menschen, jedes Menschen, ist unantastbar. So will es unsere Verfassung.
Aber auch dieser Anker ist kein Ruhekissen. Das hat uns ein ehemaliger Innenminister Anfang des Jahres gelehrt.
Er sprach im Zusammenhang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention von "seltsamen rechtlichen Konstruktionen",
die im heutigen Kontext zu hinterfragen seien. Um dann sehr grundsätzlich zu werden: "Recht muss Politik
folgen, nicht Politik dem Recht." Womit auch die Grundfesten unseres Rechtsstaats ins Wanken geraten. Schließlich
galten die Menschenrechte bei uns lange als unantastbar.
Lernen wir also aus der Geschichte hier in Hartheim, indem wir unser Tun daran messen. Vergleichen wir unsere Haltung
und die Haltung unserer Mitmenschen mit jener der damaligen Täter, ohne sie gleichzusetzen. Machen wir uns
immer wieder bewusst, dass unser Umgang mit den schutzbedürftigen Menschen etwas darüber aussagt, was
wir selbst als Menschen sind. Kämpfen wir gegen den Dämon der Gleichgültigkeit an. Stellen wir uns
immer wieder den letzten Weg des kleinen Seppi bis in die Gaskammer des Schlosses hier vor.
Denken wir daran, wie er in der Gaskammer noch seine kleinen Hände vor seine Augen hielt, bevor nebenan der
Arzt das Ventil der Gasflasche öffnete. Und machen wir uns immer wieder den letzten Weg der anderen 30.000
Opfer bewusst.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben. Und noch eine Bitte zum Schluss. Schenken Sie mir keinen Applaus,
schenken Sie uns allen einen Moment der Stille.
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