Gusenbauer: Österreich braucht ein großes Reformwerk und nicht »Formelkompromisse«
Reformbedarf bei Pensionen, Gesundheit, Bildung, Verfassung und Arbeitsmarkt
Wien (sk) - "Die Österreicherinnen und Österreicher wollen ein großes Reformwerk und werden sich nicht mit Formelkompromissen und einem Flickwerk begnügen. Das Festhalten an Altem kann ein Würgegriff für das Erhaltenswerte sein", erklärte SPÖ-Vorsitzender Alfred Gusenbauer am Donnerstag (09. 01.) in seinem Einleitungsreferat bei der Neujahrskonferenz der SPÖ. Ob es in der ÖVP eine Bereitschaft zu einem solchen Reformwerk gebe, werde man in vertiefenden Gesprächen untersuchen. Exemplarisch für die anstehenden Reformen nannte Gusenbauer erstens den Bereich Pensionen, zweitens eine Reform des Gesundheitssystems, drittens eine Bildungsreform, viertens eine Reform der Verfassung und fünftens Maßnahmen zur Beschäftigung.

Gusenbauer erklärte, dass gerade im Pensionsbereich jetzt Maßnahmen notwendig seien. Es stehe außer Streit, dass die Menschen länger arbeiten müssten, sie müssten aber auch die Chance dazu bekommen, weshalb man ein Maßnahmenpaket für ältere Arbeitnehmer benötige. Die Pensionsgerechtigkeit sei durch ein einheitliches Pensionssystem zu erhöhen. Wer früher gesund in Pension gehen will, solle dies bei einer geringeren Pension können, und die Zuverdienstregelung für Pensionisten sei aufzuheben.

Außerdem brauche man Regelungen in den Bereichen Erwerbsunfähigkeit und Teilpension, sowie eine Neudefinition des Generationenvertrags. In Zusammenhang mit seinem Vorschlag für einen Solidarbeitrag für Bezieher höherer Pensionen als der höchsten ASVG-Pension hielt Gusenbauer fest, dass man für einen gesellschaftlichen Ausgleich sorgen müsse und nicht die Interessen einer Einzelgruppe zum Maßstab gemacht werden dürften. "Eine Interessenvertretung ist etwas anderes als eine politische Partei."

Im Gesundheitssystem, das, wie Gusenbauer hervorhob, hervorragende Leistungen erbringe, werde die Finanzierungslücke immer größer. Der SPÖ-Vorsitzende betonte dazu einerseits, dass nach wie vor große Einsparungspotenziale vorhanden seien; andererseits müsse man auch zur Kenntnis nehmen, dass die Gesundheitskosten einer älter werdenden Gesellschaft steigen, anders gesagt: Gesundheitsleistungen bekommen einen noch größeren Stellenwert in der Gesellschaft.

Einsparungspotenziale sieht Gusenbauer unter anderem bei den Medikamentenkosten, in der Organisation der Krankenanstalten und an den Schnittstellen zwischen niedergelassenem Bereich und klinischem Bereich. Als eine erhebliche Ineffizienz mit weitreichenden Folgen auf der Kostenseite sieht Gusenbauer das "Kast'l-Denken". Er sprach sich für eine Vereinheitlichung in den Organisationsstrukturen und bei den Leistungen aus.

Vom jüngsten Vorschlag der ÖVP - einer Vereinheitlichung der Selbstbehalte nach dem Muster der Eisenbahner- oder Beamtenversicherung - hält Gusenbauer wenig. Dabei sei als Ergebnis zu befürchten "wenig Einnahmen, viel Verdruss", nach dem Beispiel der Ambulanzgebühren. Gusenbauer verwies darauf, dass der Finanzierungsanteil der Selbstbehalte bei den Eisenbahnern nicht mehr als 3,8 Prozent betrage und bei den Beamten 5,7 Prozent. Zugleich bieten aber diese Versicherungen ein breiteres Leistungsspektrum. Eine Vereinheitlichung der Selbstbehalte ohne Vereinheitlichung der Leistungen sei kaum denkbar.

Entgegen der ÖVP-Forderung nach mehr Selbstbehalten stellte Gusenbauer das solidarische Konzept der SPÖ zur Diskussion: Eine Entlastung der Arbeit durch wertschöpfungsbezogene Elemente in der Finanzierung der Krankenversicherung und eine Aufhebung der Höchstbeitragsgrundlage in der Krankenversicherung.
   
Für Dienstleistungsscheck und für Sachleistungsbezug beim Pflegegeld
"Wir müssen alles unternehmen, um die hohe Arbeitslosigkeit zu senken; neben den klassischen Instrumenten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit brauchen wir auch ergänzende Vorschläge zur Erhöhung legaler Beschäftigungsmöglichkeiten", so Gusenbauer weiter und erklärte, dass in diesem Zusammenhang ein Sachleistungsbezug beim Pflegegeld diskutiert werden müsse, ebenso wie die Einführung eines Dienstleistungsschecks für Pflegeleistungen. Weiters seien Reformen im Bildungsbereich notwendig - "das allgemeine Niveau muss gehoben und die Spitzenbegabung gefördert werden" - und eine Staatsreform, die aber keine Bundesstaatsreform allein sein könne. Auf jeden Fall sei die SPÖ der "soziale Reformmotor Österreichs".

Zu den wichtigen "klassischen Instrumenten" zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, z.B. Infrastrukturoffensive, Investitionsförderung, Qualifizierungsmaßnahmen und Erhöhung der unteren Einkommen, komme die Tatsache hinzu, dass die Pflege älterer Menschen immer wichtiger werde, und dies müsse wiederum einen Ausschlag auf die legalen Beschäftigungsmöglichkeiten in diesem Bereich haben. Ein Dienstleistungsscheck für Pflegeleistungen und ein Sachleistungsbezug beim Pflegegeld seien ergänzend zu den Vorschlägen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung zu diskutieren.

Für eine Bildungsreform habe die SPÖ eine Reihe von weitreichenden Vorschlägen erarbeitet, zu erwähnen seien etwa die verpflichtende vorschulische Bildung in Kindergärten, Verstärkung der Zweisprachigkeit, Oberstufen nach einem Modulsystem, Einführung von Bildungskonto und -prämie sowie Ganztagsschulen. Es gehe darum, das allgemeine Niveau zu heben und die Spitzenbegabung zu fördern.

Zum Thema Staatsreform hielt der SPÖ-Vorsitzende fest, dass die Verfassung - "bei aller Wertschätzung" - in die Jahre gekommen sei. Es gelte nun, die Staatsaufgaben zu durchforsten, Kompetenzen zu bündeln und aufzuteilen, und auch das Legalitätsprinzip habe sich in seiner umfassenden Wirksamkeit überlebt. Gusenbauer: "Staat und Verwaltung müssen loslassen können, um wieder wirksam sein zu können."

Die fünf Reformbereiche Pensionen, Gesundheit, Bildung, Verwaltung, Beschäftigung seien von ihm, Gusenbauer, exemplarisch für den großen Reformbedarf genannt worden. "Es sind viele weitere Reformen notwendig, und die SPÖ ist der Reformmotor Österreichs."
   
»Müssen Mut zu unbequemen Wahrheiten haben«
Die SPÖ werde gemeinsam und geschlossen, wie sie auch im Wahlkampf angetreten sei, die Sondierungsgespräche mit der ÖVP und unter Umständen auch Regierungsverhandlungen führen. Und egal, ob die SPÖ in eine Regierung komme oder in Opposition bleibe, sie werde an ihrem Ziel, der sozialen Erneuerung und Modernisierung Österreichs, arbeiten, so der SPÖ-Vorsitzende weiter und sprach sich in diesem Zusammenhang gegen die immer wieder geäußerte Haltung aus, dass in der Oppositionsrolle alles bequemer sei; dies sei kein verantwortungsvoller Standpunkt, und es sei nicht so, dass die Erneuerung der SPÖ nur als Oppositionspartei weitergeführt werden könne.

Der SPÖ-Vorsitzende betonte, dass die 1,8 Millionen Wähler der SPÖ die Hoffnung hätten, dass sich die Sozialdemokratie für soziale Gerechtigkeit und die notwendigen Reformen einsetzen werde, und dass sie hoffen, dass eine Fortsetzung von Schwarz-Blau verhindert wird. "Diese Hoffnungen sind die Grundlage für unsere Politik", so Gusenbauer.

Österreich stehe derzeit vor einer Reihe großer Herausforderungen: externer, wie der Globalisierung und der technologischen Entwicklung, und interner Herausforderungen, wie der demografischen Entwicklung, der erhöhten Nachfrage nach sozialen Leistungen und neuen sozialen Werten und dem Spannungsverhältnis Solidarität und individuelle Freiheit. Zusätzlich habe es man mit einem Steuer- und Abgabenniveau zu tun, das an die "Grenze des Akzeptablen" gestoßen sei. "Diese Herausforderungen dürfen nicht negiert werden, und wir müssen den Mut zu unbequemen Wahrheiten haben", so Gusenbauer, der in diesem Zusammenhang die Bereiche Arbeitslosigkeit, lahmendes Wirtschaftswachstum, hohe Abgabenquote und ein "weit entferntes Nulldefizit" nannte. Zusätzlich würden die Pensionskosten ebenso wie die Kosten für das Gesundheitssystem steigen.

"Das ist das Erbe von Schwarz-Blau, die sich als angebliche Reformregierung präsentiert haben. Aber nicht überall, wo Reformen draufsteht, sind auch Reformen drinnen", betonte der SPÖ-Vorsitzende. "Wir müssen eine Entscheidung treffen: Wo soll es mehr, wo soll es weniger geben. Das ist notwendig, um faire Chancen für alle zu ermöglichen." Als missglückten Vorschlag nannte der SPÖ-Vorsitzende die Vorstellungen der ÖVP zu den ÖBB. Sich an der Vorgehensweise von Großbritannien zu orientieren, sei eine "gefährliche Drohung"; man solle sich lieber an erfolgreichen Modellen ein Beispiel nehmen, empfahl Gusenbauer abschließend.
     
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