Paris (esa) - In den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1908 wurde es über den ausgedehnten
Wäldern Westsibiriens plötzlich taghell: Am wolkenlosen Himmel tauchte ein längliches, weißglühendes
Objekt auf, das auf die Erde zuraste. Etwa 8 km über der Erdoberfläche explodierte der Eindringling,
wodurch unter anderem in einem Gebiet von 2 000 Quadratkilometern sämtliche Bäume flachgelegt wurden.
Das Explosionszentrum lag in der spärlich besiedelten Taiga, weshalb die Detonation von einer geschätzten
Stärke von 10 Megatonnen TNT (etwa 500mal die Energie der Atombombe, die Hiroshima zerstörte), wenn überhaupt,
nur wenige Opfer zur Folge hatte. Wäre das „Tunguska-Objekt“ - benannt nach dem Fluß, in dessen Nähe
sich die Explosion ereignete -, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Asteroiden von der doppelten Größe
eines Tennisplatzes handelte, über London oder Paris explodiert, wäre die Zahl der Opfer wohl in die
Millionen gegangen.
Glücklicherweise finden Verheerungen durch herabstürzende erdnahe Objekte (NEOs) selten und in großen
zeitlichen Abständen statt. Gegenwärtige Schätzungen gehen davon aus, daß eine Kollision eines
50-Meter-Objekts vom Tunguska-Typ mit der Erde etwa alle 100 bis 300 Jahre stattfindet. Der Aufprall eines Objekts
von 1 km Durchmesser - ein Szenario, mit dem alle paar hunderttausend Jahre zu rechnen ist - könnte ein ganzes
Land auslöschen; glimpflicher würde es auch beim Sturz eines solchen Objekts in den Ozean nicht ablaufen,
da hierbei Flutwellen gigantischen Ausmaßes, sogenannte Tsunamis, entstünden, die noch in mehreren tausend
Kilometern Entfernung ganze Küstenstriche verwüsten würden.
Ein zunehmendes Bewußtsein der möglicherweise desaströsen Folgen solcher Einschläge hat dazu
geführt, daß in jüngster Zeit Anstrengungen unternommen wurden, die größeren erdbedrohenden
Objekte zu erfassen und zu kategorisieren. Um jedoch die zahllosen Tunguska-ähnlichen Objekte aufzuspüren
und zu katalogisieren, muß weit mehr geschehen. Nur dann sind rechtzeitige Warnungen vor drohenden Einschlägen
sowie Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr möglich.
Zwar sind an verschiedenen Orten der Erde immer ausgefeiltere Suchprogramme im Einsatz, aber die Suche nach Objekten,
die sich in unsere Richtung bewegen, muß in den Weltraum ausgedehnt werden. Nur weltraumgestützte Observatorien
sind in der Lage, die notwendigen Rundumbeobachtungen durchzuführen und so potentiell gefährliche Objekte
zu entdecken, die von der Erde aus wegen des grellen Sonnenlichts unsichtbar sind.
Im Juli 2002 wurden aus dem Programm für Allgemeinen Studien der ESA Mittel für vorläufige Studien
zu sechs Weltraummissionen bereitgestellt, die unser Wissen über NEO bedeutend erweitern könnten.
„Die sechs Vorschläge wurden ausgewählt, weil ihr Missionskonzept dazu beitragen dürfte, grundlegende
Fragen zur Bedrohung durch NEOs zu beantworten, etwa in bezug auf ihre Zahl, ihre Größe und Masse und
ob es sich um kompakte Körper oder eher lose Gesteinsansammlungen handelt“, erklärt Andrés Gálvez,
der Leiter des Teams für fortschrittliche Konzepte im Europäischen Weltraumforschungs- und technologiezentrum
(ESTEC) der ESA im niederländischen Noordwijk. „Diese und andere Informationen sind nötig, um geeignete
Abwehrmaßnahmen entwickeln zu können.“
Gálvez weiter: „Die Missionen können zwei Kategorien zugeordnet werden. Die Observatoriumsmissionen
sind in der Lage, weit mehr NEOs zu entdecken und zu beobachten, als dies von der Erde aus möglich wäre.
Dies gibt Astronomen die Möglichkeit, ihre Bahnen zu berechnen und langfristig vorherzusagen, ob sie eines
Tages eine Gefahr für die Erde darstellen könnten.
Die Vorbeiflug- oder Begegnungsmissionen dienen dazu, eine kleine Zahl von NEOs genau unter die Lupe zu nehmen
und Daten über ihre Größe, Zusammensetzung, Dichte, interne Struktur usw. zur Erde zu schicken.
Dies ist insofern wichtig, als wir so genau wie möglich wissen müssen, wie sie sich verhalten würden,
falls wir versuchen sollten, sie aus einer Kollisionsbahn mit der Erde zu werfen.“
Die überprüften sechs Missionen waren folgende:
- Don Quijote: Dieser Vorschlag sieht zwei Raumfluggeräte zur Erprobung von Technologien vor, die nötig
sind, um einen Asteroiden aus einer Kollisionsbahn mit der Erde zu werfen. Dabei soll „Hidalgo“ mit einer Geschwindigkeit
von 10 km/s auf einem Ziel-Asteroiden mit einem Durchmesser von 500 m aufschlagen, während das zweite Gerät,
„Sancho“, mehrere Sensoren zur Oberfläche des Asteroiden schicken und das Geschehen während und nach
dem Aufschlag aus sicherer Entfernung beobachten soll. Hierdurch sollen wertvolle Erkenntnisse über den inneren
Aufbau des NEO gewonnen werden.
- Earthguard 1: Ein Teleskop würde als Passagiernutzlast bei einer Mission ins innere Sonnensystem, z.B.
beim Start des Merkur-Orbiters BepiColombo der ESA, mitfliegen. Es würde sich der Erde nähernde Asteroiden
von mehr als 100 m Durchmesser entdecken, was mit Bodenteleskopen sehr schwierig oder sogar unmöglich ist.
- EUNEOS: Ein mittelgroßes Teleskop auf einer eigenen Satellitenplattform würde von seiner Warte innerhalb
der Venusbahn die gefährlichsten NEOs ausfindig machen. Hauptziel wäre das Aufspüren von 80 % der
potentiell bedrohlichen Objekte mit Durchmessern von bis zu wenigen hundert Metern. Dies könnte in fünf
Jahren erreicht sein; durch das anschließende systematische Wiederaufspüren der Objekte könnten
dann ihre Bahnen mit großer Genauigkeit errechnet werden.
- ISHTAR: Hierbei würde neben der Masse, der Dichte und der Beschaffenheit der Oberfläche eines NEO
sein Inneres sondiert, um seinen Aufbau und seine innere Stärke in Erfahrung zu bringen. Dies würde mittels
Radar-Tomographie geschehen, einer neuen Technologie, die ein Bodendurchdringungsradar zu Aufnahmen des Inneren
eines festen Körpers nutzt.
- SIMONE: Eine Flotte von fünf kostengünstigen Kleinsatelliten würde an einer Reihe verschiedener
NEOs vorbeifliegen bzw. ihnen begegnen. Jeder dieser Satelliten wäre mit einer Reihe wissenschaftlicher Instrumente
ausgerüstet, die wertvolle Erkenntnisse über die Beschaffenheit großer Asteroiden (zwischen 400
und 1 000 m Durchmesser) mit unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften und unterschiedlicher Zusammensetzung
liefern würden. Für die Begegnungen mit den Zielobjekten würden schubschwache Ionentriebwerke eingesetzt.
- Fernbeobachtung von NEOs aus dem Weltraum: Mit einem weltraumgestützten Observatorium sollen Fernbeobachtungen
durchgeführt und die physikalischen Eigenschaften von NEOs wie Größe, Zusammensetzung und Oberflächenbeschaffenheit
bestimmt werden.
„Wir haben nun eine Reihe hervorragender Vorschläge, die sowohl durchführbar als auch finanzierbar
sind“, freut sich Franco Ongaro, der Leiter der ESA-Abteilung für fortschrittliche Konzepte und Studien. „Diese
von der Industrie und Universitäten durchgeführten Phase-A-Studien, die im Januar abgeschlossen wurden,
liefern einen wertvollen Rahmen für die Entwicklung künftiger Missionen. Nun soll in Beratungen innerhalb
der ESA und mit ihren internationalen Partnern die weitere Vorgehensweise abgestimmt werden."
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