Leitl: Rascher EU-Beitritt Tschechiens liegt im Interesse beider Länder
"Wirtschaft ist Stimme der Vernunft" - "Zukunftsfragen in europäischer
Gesinnung lösen" - Tschechien ein vorbildlicher Beitrittskandidat
Wien (pwk) - Die Wirtschaftskammern Österreichs und der Tschechischen Republik treten im gemeinsamen
Interesse für einen raschen Beitritt unseres Nachbarlandes zur EU ein. Jede Verzögerung wäre schädlich
für die beiden Wirtschaftsstandorte.
Die bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass die Wirtschaft die EU-Erweiterung bereits jetzt lebt, während
die Politik noch über offene Fragen diskutiert, sagte WKÖ-Präsident Christoph Leitl am Montag (06. 05.) in einem gemeinsamen Pressegespräch mit dem Präsidenten der Wirtschaftskammer
der Tschechischen Republik, Zdenek Somr, im Anschluss an ein gemeinsames Treffen im Haus der Wirtschaft. Thema
der vorangegangenen Beratungen der beiden Wirtschaftskammer-Präsidenten waren die sich dynamisch entwickelnden
Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Nachbarn.
Tschechien sei ein vorbildlicher Beitrittskandidat und liege mit 25 abgeschlossenen Kapiteln im Spitzenfeld der
EU-Beitrittskandidaten, lobte Leitl. Einem Beitritt mit 1.1.2004 sollte nichts entgegenstehen.
"Die beiden Wirtschaftskammern sehen sich im Zentrum einer breiten Koalition der Vernunft. Statt eines politischen
Kampfes der Worte treten wir für Taten des Friedens und der Gemeinsamkeit ein", verwies Leitl auf die
freundschaftlichen Beziehungen, die sich trotz aller politischen Turbulenzen zwischen den Wirtschaftstreibenden
beider Länder entwickelt haben. "Unsere Jugend interessiert nicht, was vor 50 Jahren war, sondern was
in 50 Jahren sein wird. Wir müssen unsere Zukunftsaufgaben auf der Basis einer europäischen Gesinnung
wahrnehmen. Die Fragen, die mit dem AKW Temelin oder mit dem 2. Weltkrieg (Stichwort: Benes) verbunden sind, müssen
wir nicht in Angst voreinander, sondern in Vertrauen zueinander lösen", betonte Leitl.
Beide Wirtschaftskammern sind der Meinung, dass der "Melker-Prozess" vom November 2001 und die Deutsch-tschechische-Erklärung
über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung" aus dem Jahr 1997 die beste Grundlage
für eine Lösung der offnen Probleme Temelin und Benes-Dekrete darstellten. Die Regierungen werden dringend
ersucht, Lösungen zu finden, die den gutnachbarlichen und positiven wirtschaftlichen Beziehungen förderlich
sind und "nicht die Gegenwart und schon gar nicht die Zukunft belasten".
Präsident Somr hob in seiner Stellungnahme vor den Journalisten den offenen und zukunftsorientierten Verhandlungsstil
Leitls, sowie dessen realistische Haltung zu schwierigen Fragen besonders hervor. Es sei nicht zuletzt Leitls Verdienst,
dass sich die Beziehungen zwischen den Wirtschaftskammern und damit zwischen den Ländern gut entwickelt haben.
Somr verwies darauf, dass sich sein Land noch mit vielen Schwierigkeiten auseinandersetzen müsse, die es durch
50 Jahre Kommunismus geerbt" habe. Zwischen den beiden Unternehmervertretungen gäbe es keine ungelösten
Fragen. Der beste Beweis dafür: "Schon morgen" würden die Verhandlungen der Experten beginnen,
"um unsere heutigen Vereinbarungen umzusetzen", erklärte der Gast aus Tschechien.
Beide Wirtschaftskammern erwarten, wie Leitl weiter sagte, von ihren Regierungen einen prioritären Ausbau
der vernachlässigten Verkehrsinfrastruktur. Von besonderer Bedeutung ist der Bau der Nordautobahn nach Brünn
sowie einer Autobahn bzw. Schnellstraße von Linz nach Budweis. Ein weiterer Punkt betrifft die Öffnung
neuer Grenzübergänge. Die Öffnungszeiten der bestehenden Übergänge sollen möglichst
großzügig erweitert werden. Nach dem EU-Beitritt sollten alle Übergänge auch der Transportwirtschaft
offen stehen. Ebenso sollten die bereits von den zuständigen Ministern unterschriebenen Grenzgänger-
und Praktikantenabkommen umgehend in Kraft gesetzt werden. Vor allem im OÖ-Grenzraum werden dringend Facharbeiter
benötigt, die in Tschechien andererseits keine entsprechenden Arbeitsmöglichkeiten finden. "Es geht
um das Zusammenwachsen des grenznahen Raumes. Zum Unterschied von bestehenden Klischees wird es kein Lohndumping
geben. Es gilt österreichisches Recht", betonte Leitl. Schließlich soll das bereits seit zwei Jahren
als Entwurf vorliegende Tourismusabkommen unterschrieben und in Kraft gesetzt werden.
Beide Wirtschaftskammern wollen zusätzlich durch Unterstützung verschiedenster Projekte selbst einen
aktiven Beitrag zur Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen liefern. So soll es beispielsweise eine noch intensivere
Zusammenarbeit bei der ökonomischen Partnersuche mit Außenhandelsinteressen geben.
Beide Gesprächspartner betonten mehrmals, dass die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Österreich und Tschechien
ungeachtet aller politischer Diskussionen florierten. Seit 1993 kam es fast zu einer Verdreifachung der österreichischen
Exporte auf 2,15 Mrd Euro (2001). Tschechiens Lieferungen konnten in diesem Zeitraum mit einer Steigerung auf 2,12
Mrd Euro mehr als verdreifacht werden. Auch im abgelaufenen Jahr konnten die österreichischen Exporte nach
Tschechien um 9 % (2,15 Mrd Euro), die Importe um 12,2 % auf 2,12 Mrd Euro überdurchschnittlich zulegen (Österreichs
Gesamtexporte stiegen zum Vergleich um 6,8 %.). Auch für das laufende Jahr erwarten beide Partner ein Anhalten
des erfreulichen Aufwärtstrends.
Dank der überproportionalen Entwicklung des Handels ist Tschechien zum achtwichtigsten Handelspartner (ex-
und importseitig) aufgestiegen. Für Tschechien wiederum ist Österreich nach Deutschland und der Slowakei
der drittwichtigste Handelspartner (bei nahezu ausgeglichener Handelsbilanz) und inzwischen auch der drittwichtigste
ausländische Investor. Nach dem Investitionsrekord im Jahr 2000 und Neuinvestitionen von 329,5 Mio Euro im
Jahr 2001 erreichen die bisher in Tschechien getätigten österreichischen Direktinvestitionen fast 3 Mrd
Euro. Damit avancierte Tschechien zum wichtigsten Investitionsland österreichischer Unternehmen und hat damit
Ungarn überholt.
Die österreichischen Investitionen betreffen wesentliche Sparten des Dienstleistungsbereichs (Banken, Versicherungen,
Leasinggesellschaften, etc.), zunehmend aber auch immer mehr Produktionsunternehmen. Einerseits wurden bestehende
Unternehmen übernommen und modernisiert, andererseits neue Firmen errichtet. Die Gesamtzahl der in Tschechien
tätigen Unternehmen mit österreichischer Kapitalbeteiligung liegt bei rund 3.500, davon ca. 400 im produktiven
Sektor.
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