Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Parlament  

erstellt am
06. 05. 03

Flucht und Exil als Thema der Gedenkstunde im Hohen Haus
Wien (pk) - "Vergiss das Wort, vergiss das Land. Flucht und Exil im Spiegel österreichischer Literatur." Unter diesem Motto stand heuer die Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, die am Montag (05. 05.) im historischen Sitzungssaal des Parlaments abgehalten wurde.

Neben Reden von Nationalratspräsident Andreas Khol und Bundesratspräsident Herwig Hösele stand ein umfangreiches kulturelles Programm im Mittelpunkt der Veranstaltung, für welches das Kantoralensemble Wien und der Schauspieler Miguel Herz-Kestranek verantwortlich zeichneten.

Den Auftakt des künstlerischen Rahmenprogramms machte das Kantoralensemble Wien unter der Leitung von Dirigent Rami Langer, das eine Schubert-Vertonung des 92. Psalms ("Tow L´hodos") in hebräischer Sprache darbot. Danach folgte eine Lesung von Texten österreichischer Autorinnen und Autoren, die zwischen 1938 und 1945 von den Nationalsozialisten ins Exil gezwungen und/oder verfolgt wurden. Gelesen wurden die literarischen Stücke von Miguel Herz-Kestranek, Vizepräsident des österreichischen P.E.N.-Klubs, der selbst Spross einer verfolgten und in die Emigration gedrängten Familie ist.

Die Lesung begann mit einem Text von Hermann Broch (1886-1951), der 1938 in die USA zu emigrieren gezwungen gewesen war. Es folgten Texte von Alfred Polgar (1873-1955), der 1938 in die Schweiz und weiter nach Frankreich geflüchtet war, ehe er 1940 in die USA reiste, von wo er zwar 1949 nach Europa zurückkehrte, allerdings, um sich wieder in der Schweiz niederzulassen. Auch Mimi Grossberg (1905-1997), die 1938 in die USA ausgewandert war, kehrte nach 1945 nicht mehr nach Österreich zurück. Sie starb in New York.

Walter Lindenbaum, von dem Herz-Kestranek das Gedicht "Juden am Bahnhof" vortrug, war im Alter von 38 Jahren von den Nazis im KZ Buchenwald ermordet worden. Von Berthold Viertel (1885-1953), der über Frankreich und Großbritannien in die USA geflüchtet war, stammt das Motto der Lesung, heißt es doch in seinem Gedicht "Auswanderer": "Wir sind, mein Kind, nie mehr zuhause. Vergiss das Wort, vergiss das Land und mach im Herzen eine Pause. Dann gehen wir. Wohin? Unbekannt."

Nach einem Poem von Stella Rotenberg, die 1916 in Wien geboren wurde und heute in Großbritannien lebt, rezitierte der Künstler Jean Amery (1912-1978), der als einer der wenigen vertriebenen Literaten später nach Österreich zurückgekehrt war und der in seinem Essay "Jenseits von Schuld und Sühne" die Frage stellte: "Wieviel Heimat braucht der Mensch?" Erich Fried (1921-1988) lieferte zwar ein "Bekenntnis zu Wien" ab, doch auch er blieb nach 1945 im Ausland.

Weiters las Herz-Kestranek Werke von Theodor Kramer (1897-1958) und Hilde Spiel (1911-1990), Friedrich Torberg (1908-1979) und Alfred Farau (1904-1972), um schließlich mit Hermann Broch zu enden: "Die Zurückführung des Menschen in das offene System der Humanität ist die Aufgabe der Demokratie."

Zum Abschluss des künstlerischen Teils kam wieder das Kantoralensemble zu Wort, das Franz Schuberts "Glaube, Hoffnung und Liebe" intonierte, welches dieser aus Anlass der Glockenweihe der Dreifaltigkeitskirche 1828 komponiert hatte.

   
Khol: Es geht darum, wie wir es heute besser machen können
Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament

Sehr geehrte Damen und Herren!

Am 5. Mai 1945 wurden die noch lebenden Opfer des nationalsozialistischen Verbrecherstaates, die im Konzentrationslager in Mauthausen gequält und geschunden wurden, von amerikanischen Soldaten befreit. Die Bilder des Grauens, die Gesichter und Körper der Überlebenden, die ihre Befreier begrüßten, kann niemand je vergessen, der sie gesehen hat.

Damit wir alle nicht vergessen, was Gewalt und Rassismus angerichtet haben und was sie immer und auch in Zukunft anrichten können, wenn nicht an der Wurzel bekämpft, gestalten wir alle den 5. Mai alljährlich im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus als Tag gegen Gewalt und Rassismus. Als Tag des Gedenkens an jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die auf Grund ihrer Rasse, ihrer Nationalität, ihres Eintretens für das Vaterland, ihrer politischen oder religiösen Überzeugung, oder einfach wegen ihres „Anders-Seins“ verfolgt, gequält, getötet wurden.

So begrüße ich Sie alle, auch im Namen des Bundesratspräsidenten Herwig Hösele, im historischen Reichsratssitzungssaal zu unserer Gedenkveranstaltung.

Die Republik ist heute hier versammelt. Ich begrüße sehr herzlich und mit großem Respekt unser Staatsoberhaupt, Bundespräsident Dr. Thomas Klestil. An der Spitze der Bundesregierung sind Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel und Vizekanzler Mag. Herbert Haupt unter uns. Ich danke ihnen für ihr Kommen. Wir sind geehrt durch die Anwesenheit von Alt-Bundespräsident Dr. Kurt Waldheim und seiner Frau. Ich begrüße alle anwesenden Mitglieder des Nationalrates, die Bundesrätinnen und Bundesräte und die Mitglieder anderer gesetzgebender Körperschaften. An der Spitze des Diplomatischen Corps heiße ich den Nuntius, Erzbischof Dr. Georg Zur willkommen. Ich begrüße die Vertreter und Vertreterinnen Oberster staatlicher Organe, Mitglieder der Höchstgerichte, die Vertreter der Religionsgemeinschaften sowie die Vertreter der Länder und Gemeinden. Und mit besonderer Herzlichkeit begrüße ich die wenigen noch Überlebenden aus den Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Verbrecherstaates. Es freut mich auch sehr, dass so viele junge Menschen unter uns sind, Angehörige des Bundesheeres, Schülerinnen und Schüler. Sie alle sind sehr herzlich begrüßt in diesem Sitzungssaal.

Wir wollen heute aller Opfer des Nationalsozialismus gedenken. Im Geiste des „niemals wieder“ wollen wir aber auch die Zukunft gestalten. Wir machten es uns nämlich zu leicht, würden wir es beim Gedenken an die Verbrechen des nationalsozialistischen Schreckens bewenden lassen und damit unserer Verantwortung, die andauert, genügen wollen.

Das Gedenken an den 5. Mai 1945 darf nicht nur nach hinten gerichtet sein. Ein Gedenktag ist ein wichtiger Teil in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – ebenso soll er uns dazu veranlassen, Probleme der Gegenwart vor dem eigenen Gewissen zu betrachten. Gedenktage dürfen sich nicht nur an die Verantwortung früherer Generationen richten, dies wäre zu einfach, vielmehr sollen sie an die Verantwortung, die wir heute alle tragen, mahnen.

Mit der heutigen Veranstaltung wollen wir auch einen Appell an jeden persönlich richten, seinem Gewissen auch in schwierigen Zeiten und unter Bedrohung zu folgen. Es geht nämlich nicht darum, was frühere Generationen hätten besser machen können, sondern dass wir es heute besser machen müssen.

Flucht und Exil ist in vielen Teilen der Welt auch heute an der Tagesordnung. Sind es oft nicht die Besten, die ihr Land verlassen müssen? Wie werden sie woanders aufgenommen? Was können wir tun, dass die Menschenwürde der Vertriebenen gewahrt wird?

Gewalt und Rassismus treten uns auch heute wieder in ständig neuen Erscheinungsformen entgegen, manchmal frech und unverschämt offen, gleichsam im Alltagsgewand, manchmal getarnt und verkleidet. Sie zu erkennen, sie zu brandmarken und auch an der Wurzel zu bekämpfen, ist jeder Generation heute und in Zukunft wesentliche Aufgabe.

Das Parlament und die heutigen Generationen haben Verantwortung wahrgenommen und den österreichischen Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet. Bis heute wurden über 46.000 Auszahlungen entschieden. Der Fonds steht mit über 30.000 Betroffenen oder deren Nachkommen in Kontakt und erfüllt damit eine bedeutende Brückenfunktion. Der Vorsitzende der Österreichischen Pensionisten in Israel, Gideon Eckhaus, hat mir unlängst geschrieben: Der Fonds hat viel zum Ansehen der Republik Österreich geleistet. Ich danke daher allen, die an dieser Arbeit beteiligt sind, den vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, vor allem aber dem Gründungsvorsitzenden des Fonds Präsident Dr. Heinz Fischer und der Generalsekretärin Mag. Hannah Lessing. Sie haben den Fonds durch ihre Arbeit gestaltet und geprägt.

Für die Zwangs- und Sklavenarbeiter der nationalsozialistischen Herrschaft, die in Österreich fronten, litten und fern von der Heimat darben mussten, haben wir den Versöhnungsfonds geschaffen und bis jetzt in fast 100.000 Fällen helfen können. Auch dieser Fonds hat das Ansehen Österreichs gemehrt. Ich danke den Mitarbeitern unter der Leitung von Präsident Botschafter Dr. Ludwig Steiner und Generalsekretär Botschafter Dr. Richard Wotawa.

Ein weiterer Fonds wurde eingerichtet; der General Settlement Fund, der im Wesentlichen für eine Abgeltung von entzogenen Mietrechten, Einrichtungen und sonstigen Vermögensteilen geschaffen wurde. Die Frist für die Anmeldung der Ansprüche ist bis Ende dieses Monates, Ende Mai dieses Jahres, offen. Bisher wurden über 10.000 Anträge gestellt. Ich hoffe sehr, dass der Fonds auch mit der Auszahlung an die hochbetagten Opfer beginnen kann – dies ist allerdings vom Rechtsfrieden abhängig, dem in den USA zwei anhängige Verfahren entgegen stehen.

Maria Schaumayr, Wolfgang Schüssel und Stuart Eiszenstat haben sich um Versöhnungsfonds und General Settlement Fund verdient gemacht. Auch ihnen danke ich, auch ihnen gebührt Dank und Anerkennung.

Die Historikerkommission hat unter dem Vorsitz von Verwaltungsgerichtshofpräsident Dr. Clemens Jabloner inzwischen ihren umfangreichen und brillant geschriebenen Bericht vorgelegt; sie hat damit einen unschätzbar wichtigen Beitrag zur Aufhellung der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich geleistet. Und ich muss Ihnen sagen, wer diesen Bericht liest, und ich habe das getan, ist vom Zusammenwirken von Grausamkeit, Habgier und Bürokratie bis ins Innerste erschüttert. Ich danke Präsident Clemens Jabloner und den vielen hundert Mitarbeitern für ihre Arbeit.

Am nächsten Sonntag können wir das neue Besucherzentrum in Mauthausen seiner Bestimmung übergeben, als Ergebnis der Reforminitiative vom Bundesminister für Inneres, Dr. Strasser - KZ-Gedenkstätte Mauthausen heißt diese Initiative. Damit werden die Weichen für die Zukunft gestellt, um das Vermächtnis der Überlebenden für künftige Generationen zu erhalten. So wird dieses Stätte des Grauens, das KZ-Mauthausen, auch die Rolle eines Lernortes für die Zukunft übernehmen.

Und ebenso ist jeder Generation auch in Zukunft aufgetragen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Die parlamentarische Initiative zur Errichtung des Gedenktages am 5. Mai hat Früchte auch außerhalb des Parlaments getragen. Es ist ermutigend, meine Damen und Herren, dass eine Privatinitiative zweier junger Österreicher, Andreas Kuba und Josef Neumayr, rund 15.000 Schülerinnen und Schüler an über 500 Schulen in der ganzen Republik bewegen konnte, die Lebensgeschichten von österreichischen Opfern des Nationalsozialismus auszuforschen. Die jungen Menschen schreiben einen Brief an das Opfer, als Ergebnis ihrer Arbeit, und einen Brief an die Zukunft. Darin wird festgehalten, was der einzelne Briefschreiber auf Grund seiner Beschäftigung mit der schrecklichen Vergangenheit als für die Zukunft wesentlich erachtet. Ich glaube, besser kann man wohl den Absichten des Gedenktages gegen Rassismus und Gewalt nicht entsprechen. Ich danke allen, die diese Initiative ergriffen und dazu beigetragen haben. Im Anschluss an unsere Veranstaltung wird der Herr Bundespräsident die Schlussveranstaltung dieser Initiative am Heldenplatz durch eine kurze Ansprache eröffnen. Im Sinne der Initiatoren lade ich Sie alle ein, nach Ende unserer Veranstaltung hier den Herrn Bundespräsidenten und mich dorthin zu begleiten.

Ein zukunftweisender wichtiger Beitrag im Kampf für Frieden, Menschenrechte, Demokratie, Gleichberechtigung und Freiheit und damit gegen Rassismus und Gewalt ist die Erweiterung der Europäischen Union um zehn neue Mitglieder, darunter vier unserer Nachbarländer. Die Europäische Union ist heute und in der Zukunft ein Bollwerk gegen Tyrannei, Rassenwahn und Gewalt. Die Europäische Grundrechtscharta ist nicht nur Papier, darf nicht nur Papier bleiben.

Intoleranz und Gewalt führen zur Vertreibung von Gedanken, Menschen und ihren Werken. Damals durch den Nationalsozialismus und später durch andere Diktaturen. Die Vertreibung von annähernd der Hälfte der vor dem so genannten Anschluss im Jahr 1938 wirkenden österreichischen Literaten bedeutete für sie unsagbare Not und Elend und einen gewaltigen Aderlass für unser Land. Unter dem Motto „Vergiss das Wort, vergiss das Land, Flucht und Exil“ im Spiegel vertriebener österreichischer Literatur hat Miguel Herz-Kestranek Literaturstellen dieser Vertriebenen ausgesucht und wird sie uns nun vortragen. Umrahmt wird diese Lesung vom Kantoralensemble Wien, der Dirigent ist Rami Langer. Wir danken allen mitwirkenden Künstlern.

Aus den Texten, die Sie heute hören werden, strahlt eine ungebrochene Liebe zu unserem Vaterland Österreich. Es sind Hymnen an die verlorene Heimat, und wir dürfen Kraft schöpfen aus der Stärke jener, die trotz ihres schweren Schicksals diese Liebe zur Heimat bewahrt haben. Die Texte unter dem Titel „Vergiss das Wort, vergiss das Land“ sind ein Auftrag, gerade dieses Wort und dieses Land in Frieden und Freiheit zu schützen.

   
Bundesratspräsident Hösele: Es glt den Anfängen zu wehren
Wortlaut der Rede bei der Gedenkveranstaltung im Parlament
Mit einer Rede von Bundesratspräsident Herwig Hösele und dem gemeinsamen Singen der Bundeshymne ging die Gedenkveranstaltung zu Ende. Wir bringen im Folgenden den Wortlaut dieser Rede:


Die Jahre 1938-1945 waren die finstersten unserer Geschichte. Gewalt und Rassismus haben viele verschiedene Facetten. Sie können daher nicht als historische Phänomene abgetan werden, sondern müssen uns allzeit als drohende Gefahren bewusst sein.

Flucht vor Gewalt und Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen sind ebenso alte wie aktuelle Erscheinungen und Exil als bittere Lebensrealität von Menschen finden wir leider zu allen Zeiten – oft ergreifend geschildert - gleich jenen Werken der österreichischen Exilliteratur, die Miguel Herz-Kestranek für die heutige Gedenkveranstaltung kundig und sensibel ausgewählt und eindrucksvoll gelesen und präsentiert hat: Hochgeschätzter Miguel Herz-Kestranek, nochmals vielen herzlichen Dank dafür!

Über die vielen Künstler, Wissenschafter und Politiker, die Opfer des nationalsozialistischen Terrors wurden, dürfen wir die tausenden, zehntausenden, hunderttausenden anderen Menschen nicht vergessen, die ihr Schicksal geteilt haben, ohne durch „Prominenz“ ins Blickfeld der historischen Forschung getreten zu sein.

Der Geschichte einen Namen geben, der Geschichte ein Gesicht geben, der Geschichte viele Namen, viele Gesichter geben: dieses Ziel haben sich auch die Initiatoren des bereits vom Herrn Nationalratspräsidenten angesprochenen Projekts „A Letter to the Stars“ gesetzt. Auch ich danke Alfred Worm, Josef Neumayr und Andreas Kuba für diese wertvolle Initiative unserer Jugend. Und ich möchte Sie, meine Damen und Herren, nochmals herzlich zur Teilnahme an dieser Schlussveranstaltung, einladen, die unser Staatsoberhaupt, der Herr Bundespräsident mit einer Ansprache eröffnen wird. Es sind 80.000 Briefe, 80.000 Schicksale, die ge- und beschrieben wurden. Briefe wider das Vergessen unter dem Motto „Gedanken aus der Gegenwart an die Vergangenheit für die Zukunft".

Vergessen wir nie die Menschen, die durch nationalsozialistische Verbrechen ermordet worden sind! Vergessen wir nie die Menschen, die durch den Nationalsozialismus ihrer Heimat beraubt worden sind! Erinnern wir uns ihrer als stete Mahnung zu jenem „Nie wieder!", das eine bleibende Erkenntnis der furchtbaren Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors sein muss.

Es gilt aber stets aufs Neue, diesem „Nie wieder" in vielen Lebenssituationen gerecht zu werden und es gilt den Anfängen zu wehren!

Es gilt vor allem auch positive Zeichen auf breitester Basis zu setzen. - Einige besonders bedeutsame wurden vom Herrn Nationalratspräsidenten bereits angesprochen. Ich darf ein weiteres kleines Beispiel hinzufügen. In der im Jahr 2000 wiedererrichteten Grazer Synagoge wurde als Beitrag zur Europäischen Kulturhauptstadt 2003 vor wenigen Wochen von Kindern und Jugendlichen aus 15 Nationen, basierend auf biblischen Texten, das Singspiel "Exodus" welturaufgeführt – ein multikultureller Beitrag zur Suche und Sehnsucht nach Heimat und Frieden – für mich ein ähnlich bewegendes Ereignis wie die heutige Stunde, wie sicherlich anschließend am Heldenplatz und am Sonntag in Mauthausen!

Welche nachhaltig wirkenden Schlussfolgerungen können aus so wichtigen, zeichenhaften Stunden gezogen werden? Besonders eindrucksvoll für mich ist es vor allem auch im persönlichen Zeugnis und der klaren Formulierung des ungarischen Literaturpreisträgers Imre Kertesz zum Ausdruck gekommen - gegen jegliches System totalitärer Gewalt. Kertesz hat in seiner Nobel-Vorlesung in Stockholm im Dezember 2002 folgendes formuliert. Ich darf zitieren: „Zweifellos ist, dass wir uns nach Auschwitz selbst überlassen sind. Wir müssen uns unsere Werte selbst erschaffen, Tag für Tag. und durch jenes andauernde, aber unsichtbare ethische Wirken, das diese Werte eines Tages ans Licht bringt und vielleicht zu einer neuen europäischen Kultur erhebt.“ Soweit Kertesz. Die Werte Menschenrechte und Menschenwürde, Demokratie, Solidarität, Verantwortungsbewusstsein, Toleranz, Dialogbereitschaft und Liberalität müssen uns im Sinne unserer europäischen Kultur und im sich vereinigenden Europa Tag für Tag leiten. Es sind die Werte, mit denen die offene und demokratische Zivilgesellschaft wirkungsvoll gegen ihre Feinde auftreten muss, von denen ich einige nenne: Fundamentalismus jedweder Provenienz, Xenophobie, Ausgrenzung, Intoleranz, Demagogie, Gleichgültigkeit und – ja, ich erwähne bewusst in dieser Stunde auch eine oberflächliche Spaßgesellschaft als vielleicht wenig sichtbaren, aber gefährlichen Feind. Hermann Broch hat diese Aufgabe in einem Satz zusammengefasst, den Miguel Herz-Kestranek als fordernde Schlusssequenz wählte und den ich besonders unterstreiche: „Die Zurückführung des Menschen in das offene System der Humanität ist die Aufgabe der Demokratie.“ Das ist eine wahrlich große tagtägliche Aufgabe für alle. Sie fordert uns heute, morgen, jeden Tag.

Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, abschließend den Künstlern, Herrn Miguel Herz-Kestranek und dem Kantoralensemble Wien mit seinem Dirigenten Rami Langer im Namen aller nochmals ein aufrichtiges Wort des Dankes für ihren hoch stehenden und berührenden Beitrag zur Gestaltung dieser Gedenkveranstaltung zu sagen!

Unsere Veranstaltung wird nun ausklingen, indem wir gemeinsam die erste Strophe der österreichischen Bundeshymne anstimmen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und darf Sie, meine Damen und Herren, bitten, sich dazu von Ihren Plätzen zu erheben. Herzlichen Dank!
     
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