Mutmacher in Gesellschaft haben es schwer, im Chor der Nein- Sager, Jein-Sager oder Rückspiegelnostalgiker
gehört zu werden
Wien (övp-pd) - "Ein Journalist in Deutschland hat gesagt: Das Zeitalter der Übertreibungen
hat erst begonnen. Und dem müssen wir widerstehen. Es braucht positive Kräfte, die dagegenhalten, wenn
der Eindruck entsteht, dass alles sich zum Schlechteren wendet", sagte ÖVP-Bundesparteiobmann Bundeskanzler
Dr. Wolfgang Schüssel bei seiner "Rede zur Lage der Nation" am Donnerstag (15. 05.).
"Wir lassen uns täglich einbetonieren von den Superlativen des Negativen. Da wird hemmungslos der Untergang
des Sozialstaats, die Zerstörung des sozialen Friedens, die Massenverelendung, der Pensionsraub, die Globalisierungskatastrophe
und ganz allgemein Skandal, Lüge und Betrug geradezu gepredigt", so Schüssel. Eine "undifferenzierte
Opfermentalität" ergreife die öffentliche Diskussion. "Und das alles, obwohl diese Land birst
vor Innovationen und Initiativen, in der Wirtschaft, im Sozialbereich, in Bildung, Umwelt und Forschung",
so der Bundeskanzler.
Schüssel erwarte sich von der EU ein mehr an Jugend, an Dynamik, an positivem Innovationsgeist, an Neugier
auf das Neue, nicht "Sorge, Abkehr vor dem Neuem, vor der Zukunft". Die "Mutmacher in unserer Gesellschaft"
hätten es schwer, im Chor der Nein-Sager, Jein-Sager oder Rückspiegelnostalgiker gehört zu werden",
so Schüssel.
"Ich bin der festen Überzeugung, dass die Österreicherinnen und Österreicher bei weitem reformwilliger
und zukunftsfreudiger sind, als dies oft behauptet wird", erklärte der Bundeskanzler. Die Österreicher
spürten ganz genau, "dass ein Weitermachen so wie bisher einfach nicht geht". Sie wüssten auch
ganz genau, dass der einzelne durch den gesellschaftlichen Wandel Chancen, Fähigkeiten und Verantwortung dazugewinnen
könne. "Ich wehre mich dagegen, zu glauben, dass wir eine Gesellschaft von Ichlingen sind, deren Horizont
nur bis zur eigenen Nasenspitze reicht", so Schüssel. Man habe Ansprüche an die Gemeinschaft, aber
auch die Bereitschaft und die Pflicht, dazu einen Beitrag zu leisten.
Manchmal habe man in diesen Tagen "geradezu Sehnsucht nach einigen positiven Meldungen". Die schönste
Nachricht sei gestern gewesen, dass zehn Österreicher nach monatelanger Gefangenschaft in der algerischen
Wüste befreit worden seien. "Das war eine Meldung, die jedem von uns das Herz weit gemacht hat",
so Schüssel.
Als zweite positive Meldung habe der Verlag "Reader's Digest" gestern eine Umfrage aus achtzehn europäischen
Ländern und 31.000 Lesern präsentiert, aus der hervorginge, dass "der perfekte Europäer in
Österreich geboren" wird. "Ein schöneres Kompliment kann es eigentlich gar nicht geben",
so der Bundeskanzler. Weiters hätten die Österreicher mit 85 Prozent unter allen Befragten das größte
Vertrauen in ihr Gesundheitssystem.
Der Bundeskanzler sagte, er wolle "die Probleme nicht klein reden", es gäbe "natürlich
Krisenherde auf der Welt", den Irakkrieg etwa, der "gottseidank mit einer geringstmöglichen Zahl
von Opfern im militärischen und im zivilen Raum beendet" worden sei. Dass jetzt die für den Irak
die Chance bestehe, sich in Freiheit in Richtung Demokratie und Pluralismus zu entwickeln, "ist doch Grund
zur Freunde, und nicht zur Sorge", sagte Schüssel. Natürlich seien die Probleme im Nahen Osten überhaupt
noch nicht gelöst, "aber es wird gearbeitet. Von den Friedensbewegten auf allen Seiten wird versucht,
hier Kräfte zu bündeln und mitzuhelfen bei der Befriedung von vielen Krisenherden".
Es gebe noch immer wirtschaftliche Probleme in der Konjunktur der Welt, "aber wir sollten die richtige Konzepte
gemeinsam entwickeln, nicht in die Fehler der Vergangenheit zurückfallen und glauben, Schuldenmachen ist möglicherweise
ein Rezept", sagte Schüssel. Gerade die Länder, die früher viele Schulden gemacht und heute
hohe Defizite hätten, "sind genau in der Doppelfalle: Ihre Arbeitslosigkeit ist nicht gesunken, ihre
Wettbewerbsfähigkeit hat sich nicht verbessert, weil bei offenen Gesellschaften jedes Schuldenmachen de facto
irgendwo im Nirwana verpufft", so der Bundeskanzler.
Schüssel: ÖVP ist der Zeitpfeil der Hoffung – Gerechtigkeit als zentrales Thema
"Wer auf der Straße der Zukunft sitzen bleibt, wird von der Zukunft überrollt werden",
beschwor Schüssel. Er stellte damit die künftige Gestaltung der sozialen Vorsorge, der Pensionssicherungsreform,
der Ausbildung der Jugend und der europäischen Erweiterung in den Mittelpunkt des zweiten Teils der Veranstaltung.
Als Verdienst der ÖVP wies Schüssel auf die nachhaltige Senkung der Lohnnebenkosten hin. So seien diese
bei den über 60-jährigen um zwölf Prozent gesenkt worden. Wenn das Recht auf Qualifikation und Vorsorge
sicher gestellt werden solle, dann müsse man jetzt gerecht und fair handeln.
Hinsichtlich der Diskussion über die Geschwindigkeit der Pensionsreform sagte Schüssel: "Manche
behaupten, wir machen einen Überfall. Dieser Überfall ist aber seit zwölf Jahren angesagt. Ich habe
das Gefühl, dass hier der Schein das Bewusstsein trübt." Jede Generation lebe um drei bis vier Jahre
länger. Darauf nicht zu reagieren schaffe doppeltes Unrecht. Und er zitierte eine aktuelle Umfrage nach der
85 Prozent der Österreicher wissen, dass tiefgreifende Maßnahmen nötig seien. "Jetzt handeln,
aber mit langen Übergängen", meinte der Bundeskanzler. Er zeichnete außerdem das Bild von
der Stärke des Segelsetzens um den richtigen Kurs fahren zu können: "Seien wir Seefahrer in einer
unruhigen Zeit."
Das Thema Gerechtigkeit als Zentralthema machte Schüssel an folgenden Punkten fest: Keinerlei Ausnahmen bei
Politikerpensionen, keine Unterschiede zwischen den Berufsgruppen und die Unverzichtbarkeit der Harmonisierung.
An seine Partei appellierte Schüssel: "Wir müssen argumentieren und vor allem müssen wir stehen.
Und ihr werdet sehen es wird honoriert werden." Gleichzeitig wies er auf die wichtige Rolle der Sozialpartner
hin. "Ich bin der Letzte der die Sozialpartner nicht ernst nimmt."
Im Bildungsbereich bekannte sich der Bundeskanzler zu den "positiven Tabubrüche" von Bildungsministerin
Elisabeth Gehrer und rief die "Wissensgesellschaft" aus, die von 600 zusätzlichen Millionen Euro
für Forschung und Entwicklung profitiere. Zugleich machte Schüssel klar, dass eine "Versorgungsmentalität"
drohe, wenn man 14-jährigen Schülern das Streiken ohne Vermittlung von Pflichten und Verantwortung beibringe.
Im Zusammenhang mit der Europapolitik strich er den historischen Moment der Unterzeichnung des Erweiterungsbeschlusses
in Athen heraus, warnte aber auch vor dem "übermächtigen Riesen" und der "Gefahr der Größe".
Damit sei häufig eine Tendenz zum Missbrauch der Macht verbunden. Dabei sprach er sich für die Stärkung
der "Mitteleuropa-Idee" aus. Selbst halte er sich derzeit häufig in den Erweiterungsländern
auf, was ihm wichtiger sei "als bei jeder Facette innenpolitischer Rankünen mitwirken zu können."
"Wir wollen der Zeitpfeil der Hoffnung sein", meinte Schüssel abschließend und wurde mit stehendem
Applaus verabschiedet. |