Begrüßungsansprache Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele


26. 07. 2002

Immer ist Anfang.
Immer ist Aufbruch

Jeden Sommer präsentiert Salzburg Vertrautes, aber auch Unbekanntes, Unerhörtes, Noch-nie-da-Gewesenes, Wiederentdecktes.

Salzburg - das ist "Fest" und das ist "Spiel". Diese "Auszeit vom Alltag" ist eine bewusste Einlassung auf das Einzigartige und Unwiederholbare der künstlerischen Leistung. Hierher kommen heißt, Seele, Sinne und Intellekt zu öffnen für die Begegnung mit Künstlern und ihren Werken.

Teil der Salzburger Faszination ist immer von neuem die Spannung zwischen den Gefühls-Zwillingen "Erfahrung" und "Aufbruch". Daraus entwickelt sich hier Neues nicht als Selbstzweck, sondern immer wieder auch als Vorbild und Maßstab.

Hier wird die Ernte des Erlebten gefiltert im gestaltenden Umgang mit der Saat des für morgen Bedeutsamen. Hier wird aber auch radikal gesucht, unbequem gefordert, tiefbohrend in Frage gestellt.

Denn: Wer Aufbruch tatsächlich will, wer unvoreingenommene Neugierde bejaht, der wird sich nie zufrieden geben mit Reprisen und Kopien. Der wird - in Kunst wie Wirtschaft oder Politik -Richtung weisen, Orientierung schaffen, wird Grenzen ausweiten.

Das Bewusstsein des Aufbruchs ist der beste Immunstoff gegen Selbstzufriedenheit und damit gegen Stillstand. Als schöpferische Unruhe ist es die Folie, vor der Kunst ihre multiplen Funktionen entfalten kann:
Kraftquelle sein und zugleich Sprengsatz,
Geheimnis und Essenz,
Verzauberung und Hinterfragung,
Impuls und Grenzauslotung,
Befreiung und Verunsicherung,
Verstörung und Wahrheitssuche.

Weil aber Kunst nicht über Vernunft und Logik aufgenommen wird, sondern direkt, mit einem rätselhaften Organ, ist sie auch gefährlich.. Die wahre Kunst ist aber unbestechlich, sie kann nicht von außen beeinflusst werden, ohne kaputtzugehen, sie ist immer in Opposition - das gilt sogar für Auftragskunst" (Nikolaus Harnoncourt)

Meine Damen und Herren,

Freiheit ist Zentralthema der Kunst, aber auch Leitmotiv Europas: Auf diesem Kontinent haben wir Zäume zerschnitten und Mauern abgebrochen für die Freiheit: nicht nur für die Freiheit der Bürger vom Totalitarismus und die wirtschaftlichen Freiheiten, sondern auch für die Freiheit der Kunst. Dieses Freiheitsmotiv gibt auch unserer gemeinsamen europäischen Identität ihre tiefe Anziehungskraft: Aus unserer Geschichte ist das unauslöschliche gemeinsame Erbe der Menschenrechte und der anerkennenden Toleranz aber auch des Respektes vor der Vielfalt und der Buntheit gewachsen. In Europa wurden die vielen eigenen Kulturen immer auch von Kulturen aus anderen Weltregionen bewegt und durchdrungen, - und keineswegs nur an der Peripherie und mit imperialistischen Intentionen. Europa war immer auch Unschlagplatz und Prüflabor für Ideen. Europa wird Import-Export-Drehscheibe für Wissenschaft, Kunst und Kultur werden.

Europa wächst zusammen. Europa wächst zusammen aber auch in die Tiefe, wächst im Bewusstsein der eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Wächst im Reifegrad, aber auch im Verantwortungsgefühl für die Entwicklungen in der Welt.

 
Wie aber kann europäische Identität in einer globalisierten Welt gefestigt werden? Ein Weg wäre es, gerade die Farben so vieler Kulturen und Sprachen, regionaler Teil-Identitäten und Traditionen als Ansatzpunkt zu nehmen und heute schon als Chance zu begreifen, was in den nächsten Jahrzehnten ohnehin gerade für uns selbstverständlich werden wird: ein "Kontinent ohne Mehrheiten" zu sein, eine "plurality of minorities".

Gerade deshalb will und braucht Europa keinen Hegemon, kein Direktorium, schon gar keinen europäischen Kulturzentralismus.

Wer die uralten europäischen Konflikte behutsam entschärfen und die oft nur oberflächlich vernarbten Wunden dauerhaft ausheilen will, weiss um die Heilkraft der Kunst. Denn Kunst - so Franz Kafka" "kann der Eispickel sein gegen das gefrorene Meer in uns".

Öfter noch als Meere oder räumliche Distanzen trennen uns ja Sprachlosigkeit und das Unvermögen, den anderen oder das andere auch anerkennend zu begreifen. Nichts aber verbindet stärker als ein Fest, das man gemeinsam begeht. Gerade hier liegt die strategische Zukunftschance der Salzburger Festspiele: Als Baumeister von Brücken in einer Zeit, in der mancherorts an die Errichtung von Mauern gedacht wird. Europa braucht daher Netzwerke und Begegnungsstätten, die das Nebeneinander auf unserem Kontinent zu einem sinnlich erfahrenen europäischen Miteinander verweben.

Lassen Sie mich im heurigen Spielplan einen Akzent spezifisch hervorheben, den wir Peter Ruzicka verdanken: Angesichts des großen Unrechts, das Künstlern in der Zeit des Dritten Reiches geschehen ist, setzt er mit der Wiederentdeckung von Alexander Zemlinsky's Oper "König Kandaules" eine besondere Geste. Sein Anliegen ist dabei, Meisterwerke vertriebener Künstler nicht nur in den Archiven aufzuarbeiten, sondern sie wieder in lebendige Kunst zu verwandeln. Möge dies erfolgreich gelingen! 

 
Die Salzburger Festspiele sind ein gesamtösterreichisches Unterfangen, sie werden von ganz Österreich mitgetragen. Als Bundeskanzler bekenne ich mich gemeinsam mit der Bundesregierung zum Engagement der öffentlichen Hand im materiellen Grundkonzept dieses Weltklasse-Vorhabens. Österreicherinnen und Österreicher leisten damit in Wirklichkeit aber auch einen anerkennenswerten Beitrag zur Freiheit der Kunst. Ich bin zutiefst überzeugt, dass der zur Verfügung gestellte einzigartige gestalterische Freiraum auch in Zukunft kompromisslos für künstlerische Spitzenqualität genützt werden wird!

Österreich hat seine herausragenden "kulturellen Weltmarken" in den letzten Jahrzehnten eindrucksvoll entwickelt: die Salzburger Festspiele, die Wiener Philharmoniker, die großen Kunsthäuser, Museen und Sammlungen. Graz wird im nächsten Jahr gemeinsam mit St. Petersburg Kulturhauptstadt Europas sei.

Unsere Salzburger Festspiele sind ein europäisches, ja ein wahrhaft globales Fest: 75% der Besucher kommen aus aller Welt; Künstler aus mehr als 70 Ländern gestalten dieses Fest. 500 Journalisten aus 33 Ländern berichten in diesem Sommer aus und über Salzburg. Rund um die Festspiele sind beieindruckende Musik- und Mediendienstleistungen entstanden, die den "Kulturstandort Salzburg" auch wirtschaftlich mit Leben erfüllen.

Dem neuen Intendanten der Festspiele, Peter Ruzicka, und seinem Team wünsche ich Unerschrockenheit, Leidenschaft und Unbeirrbarkeit. Man wird es Ihnen nicht leicht machen, man wird Sie vielleicht auch nicht lieben, oder jedenfalls nicht sofort. Lassen Sie sich von Ihrer Freude am Arbeiten und von Ihrem hohen Anspruch nicht ablenken. Nehmen Sie diese lebendige Kostbarkeit "Salzburger Festspiele" und alle ihre Mitwirkendenbehutsam, aber entschlossen unter Ihre Fittiche!

Möge das Spiel beginnen!