Bundeskanzler Schüssel im Interview mit dem ORF „Report-spezial“
Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel im Interview mit ORF-Redakteurin Gisela Hopfmüller am 12.
September 2001
Red.: Was bedeutet es, wenn ein Symbol wie das World Trade Center zerstört wird?
Schüssel: Jedesmal, wenn ich diese Bilder sehe, schnürt es mir die Kehle zu. Vor allem das lange Sterben
ist unvorstellbar. Es ist unvorstellbar, dass hunderte oder tausende hier betroffen sind und noch immer wissen
wir nichts über die Zahl der Opfer. Was bedeutet es? Zunächst in Zusammenrücken und ein Innehalten
vor allem bei den Tageskonflikten, die uns manchmal so unglaublich wichtig vorkommen, und es natürlich auch
sind. Aber sie werden relativ und relativiert durch das, was hier geschehen ist. Ein Zusammenrücken, weil
es zeigt, dass wir alle heute verwundbar sind. Wir leben auf einem Planeten. Es kann daher nur eine Ethik und eine
Verantwortung geben. Es kann nur eine Politik geben, um hier Sicherheit einigermaßen zu gewährleisten.
Es kann auch nur den Versuch geben, hier möglichst eng zusammenzuarbeiten. Wir gehören zusammen. Österreich
steht in dieser Situation genauso an der Seite Amerikas mit dem Mitgefühl für die Opfer und ihre Familien
und für die Führung des Landes wir alle anderen Europäer. Dieses Wir-Gefühl muss sich auch
in Europa, Gott sei Dank auch in Österreich durchsetzen. Die ganze Regierung hat sehr eng mit der Opposition,
mit den Sozialpartnern mit dem Bundespräsidenten zusammengearbeitet; und es ist auch wichtig zu wissen, dass
das in Österreich, auf europäischer Ebene und sogar global möglich ist, und das hat gut funktioniert.
Red.: Wie interpretieren Sie die Kriegsphrasen der amerikanischen Regierung?
Schüssel: Es ist natürlich eines der unfaßbarsten Angriffe des internationalen Terrorismus gegen
die westliche Welt gewesen. Es sind ja auch nicht zufällig diese Symbole gewählt worden. Nach den Informationen,
die wir haben, wurde auch Camp David, der Sommersitz der politischen Führung Amerikas ausgewählt. Das
hat aber Gott sei Dank nicht funktioniert. Es ist das militärische Zentrum, die Sicherheit des Landes, getroffen
worden, und es ist das Weltfinanz- und Handelszentrum getroffen worden mit diesen beiden Türmen. Man hat also
bewußt diese Symbole der westlichen Welt, der zivilisierten Welt, des globalen Zusammenarbeitens treffen
wollen und hat sie auch großteils getroffen. Deswegen kann man auch nur hier mit gemeinsamen Mitteln, eine
klare Antwort geben. Zunächst muss man natürlich einmal analysieren, wer dahinter steckt. Hier soll es
auch keine vorschnellen Verdächtigungen geben, sondern es muß hier sehr sorgfältig abgewägt
werden. Aber wenn Klarheit da ist, dann muß es eine unmißverständliche Antwort aller verantwortlichen
Kräfte geben, in Amerika, in Europa, in der Welt.
Red.: Ist das Denkmuster zivilisiertes Abendland versus terroristischer Islam nicht zu simpel?
Schüssel:Das ist sicher zu simpel, das muß ich auch ganz offen sagen. Der neue Terrorismus, soweit es
überhaupt Informationen darüber gibt, hat keine klaren Ziele. Dieser Terrorismus ist ausgesprochen negativ;
er hat diffuse Ziele, er will zerstören. Da geht es jetzt nicht um Glaubenskriege, um einen Clash of Civilisations,
oder den Kampf der Religionen gegeneinander. Ganz im Gegenteil. Wir haben in Österreich und ich möchte
das auch ganz klar sagen, Sorgen sowohl von jüdischen Mitbürgern als auch von islamischen österreichischen
Mitbürgern gehört. Und es ist unsere, meine Aufgabe, dass wir allen, die sich betroffen fühlen mit
all unseren Möglichkeiten, die wir haben Sicherheit geben. Gott sei Dank gibt es in Österreich keine
unmittelbare Betroffenheit. Alle Maßnahmen sind von der Regierung getroffen. Aber es ist völlig unsinnig,
daraus einen Kampf des Islam gegen das Abendland zu konstruieren, oder irgendetwas ähnliches. Das ist nicht
sinnvoll, und das führt zu Verdächtigungen, die sehr viel anrichten können.
Red.: Wie kann eine künftige Strategie gegen solche Formen des Terrors aussehen?
Schüssel: Zunächst gilt es, die internationalen Institutionen wirklich funktionieren zu lassen. Das hat
gestern in einem sehr wichtigen Moment funktioniert, als die EZB 70 Mrd. Euro, also eine unvorstellbar große
Summe, zur Liquiditätshilfe für die Weltwirtschaft investierte. Es hat funktioniert, weil die OPEC, die
Organisation der erdölproduzierenden Staaten- als der Erdölpreis zu steigen begonnen hat- über eine
Vergrößerung der Fördermengen garantierte, dass der Erdölpreis stabil bleiben soll. Und das
funktioniert heute, als die europ. Kommission zusammengetreten ist. Die EU-Außenminister haben sich zu einer
Krisensitzung zusammengefunden; im Moment tagt der NATO-Rat, die EU-Präsidentschaft hat alle Regierungschefs,
auch mich angerufen. Wir haben eine gemeinsame Strategie vereinbart. Diese lautete: Kampf gegen den Terror, Verstärkung
der Zusammenarbeit der Innen- und Justizminister, eine glaubhafte politische Antwort, Lösungsversuche gemeinsam
mit Amerika, Europa und Rußland etwa im Nahostkonflikt ein enges Zusammenrücken; und dieses Wir-Gefühl
könnte vielleicht auch eine Hoffnung in so schweren Stunden geben, dass eine neues Gefühl der Geborgenheit
möglich wird.
Red.: Was muß nun angesichts dieser Veränderung der internationalen politischen Lage geschehen?
Schüssel. Es sind vor allem Warnungen, die es ja immer wiedergegeben hat. Jetzt müssen wir sehr viel
ernster zu nehmen, dass es neben den klassischen Problemen im Militär oder durch den Minderheitenprobleme,
den unklaren Grenzziehungen, Netzwerke gibt, die man nicht so einfach aufspüren kann. Diese Netzwerke sind
möglicherweise sogar in einem so großen und wichtigen Land mit einer guten Sicherheitsstruktur wie Amerika
versteckt. Daher muß dieser Kampf gegen die Netzwerke ernst genommen werden. Es gibt heute terroristische
Gruppen, die mit viel Geld operieren, die Finanzbasen haben, die sich unter Umständen über Börsespekulationen
refinanzieren, die man sehr genau nachspüren muß. Das wird möglich sein und eine akribische Arbeit
bedeuten. Ich halte das für absolut notwendig, dass man das ernster nimmt. Diese neuen Bedrohungsbilder müssen
zu den ohnehin schon bestehenden Sicherheitsbedrohungen hinzugefügt werden. Daher arbeiten wir zur Zeit auch
an einer neuen Sicherheitsdoktrin für Österreich. Das ist eine sehr wichtige und ernste Aufgabe.
Red.: Wurden die Meldungen über den Verbleib von Usama Ben Laden in der Steiermark bestätigt?
Schüssel: Meines Wissens, und wir haben versucht, dieses Gerücht zu verifizieren, gibt es dafür
keinen Hinweis. Aber auch hier gilt, dass man sich vor raschen Verdächtigungen hüten muß. Ich glaube,
dass die Sicherheitsbehörden hier sehr genau jedem Hinweis nachgehen.
Red.: Weiß man inzwischen, ob Österreicher bei diesem Terroranschlag zu Schaden gekommen sind?
Schüssel: In beiden Türmen arbeiten ja 40-50 000 Menschen jeden Tag und dazu kommen noch Touristen. Wir
haben keine genauen Informationen. Es hat einige Vermißtenmeldungen gegeben, die noch nicht bestätigt
sind. Daher hat es überhaupt keinen Sinn, jetzt zu spekulieren. Sobald wir etwas wissen, werden wir über
die Hotline und über die Medien alle informieren. Im Moment liegen keine Information vor.
Red.: Danke für das Gespräch!“
Quelle: Österr. Bundespressedienst
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