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"Vom Großvater vertrieben, vom Enkel erforscht? Zivildienst in New York"
Jüdisches Museum Wien präsentiert Ausstellung über die Arbeit des Gedenkdienstes
Wien (jmw) - "Vom Großvater vertrieben, vom Enkel erforscht? Zivildienst in New York" ist eine Dokumentation außergewöhnlicher Begegnungen, die noch bis 13. Oktober 2002 im Jüdischen Museum Wien zu sehen ist. Sie setzt sich anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Vereins Gedenkdienst* mit einer speziellen Facette dieses Projekts auseinander, die in Zusammenarbeit mit der am New Yorker Leo Baeck Institute beheimateten Austrian Heritage Collection abgewickelt wird: dem Zivildienst in New York.
Vor zwei Jahren schlug eine kleine Gruppe von jungen Österreichern, die in New York ihren Zivildienst als Gedenkdienst geleistet hatten, dem Jüdischen Museum ein Ausstellungsprojekt vor, damit ihre Arbeit und die ihrer Nachfolger sowohl in Österreich als auch in New York publik gemacht und benützt wird. Es entstand ein Konzept, das in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist, denn zentrales Thema ist die Verständigung zwischen den Generationen angesichts der katastrophalen europäischen Geschichte des letzten Jahrhunderts. Im Rahmen der Ausstellung wird der Frage nachgegangen, wie die junge Generation der 20- bis 30-jährigen Österreicher mit den nach 1938 aus Österreich vertriebenen Juden kommuniziert und ob diese Kommunikation erfolgreich ist. Auf einer weiteren Ebene wird in der Ausstellung auch gefragt, ob diese Form der historischen Auseinandersetzung heute zu einem Ersatz für die Kommunikation über die historischen Ereignisse mit den eigenen, nichtjüdischen Vorfahren geworden ist.
Dieser Ansatz wird auch deutlich, wenn man sieht, wie unterschiedlich die Motive der jungen Männer sind, die ihren Zivildienst in New York ableisteten. Immer stehen jedoch zwei Dinge im Vordergrund: Einerseits wollen sie helfen, die in Österreich verdrängte Geschichte der Vertreibung, Ermordung und Emigration der jüdischen Österreicher zu beleuchten, andererseits war es den Gedenkdienern in New York wichtig, eben nicht in einer Gedenkstätte in einem Konzentrationslager zu arbeiten, sondern in einer Stadt zu sein, in der sie lebenden Zeugen der Geschichte begegnen konnten.
So ist die Ausstellung "Vom Großvater vertrieben, vom Enkel erforscht? Zivildienst in New York" nicht nur ein Projekt über alte bzw. ehemalige jüdische Österreicher, sondern auch über ihre Gesprächspartner, die jungen nichtjüdischen Österreicher. Sie wird vom Jüdischen Museum Wien in Zusammenarbeit mit dem Leo Baeck Institute, New York, dem Nationalfonds der Republik Österreich und dem Verein Gedenkdienst organisiert und ist von 5. Juni bis 13. Oktober 2002 im Jüdischen Museum Wien (A-1010 Wien, Dorotheergasse 11) zu sehen. Nahezu zeitgleich wird in der Galerie des Leo Baeck Institutes ein zweiter, kleinerer Ausstellungsteil präsentiert. Die Besucherinnen und Besucher beider Ausstellungen haben die Möglichkeit, via neuer Medien auch miteinander in Kontakt zu treten, wodurch sich der Dialog in der Gegenwart fortsetzt.
Das Jüdische Museum ist Sonntag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr, an Donnerstagen von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Kostenlose Führungen in deutscher Sprache: sonntags um 12 und um 15 Uhr und donnerstags um 18.30 Uhr. Durch die ständigen Ausstellungen des Museums gibt es jeden Sonntag um 16 Uhr eine Führung. Eintritt: 5 EUR/2.90 EUR ermäßigt. Anmeldung für Sonderführungen (auch in Fremdsprachen), Preis: 32.70 EUR, unter Tel. +43-1-535 04 31-311 oder 312. Details zum Angebot des Museums finden Sie auch im Internet unter www.jmw.at.
Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiges Begleitbuch (deutsch/englisch) mit 108 Seiten und 12 doppelseitigen Farbabbildungen sowie einer CD mit Interviewausschnitten. Es ist im Bookshop des Museums zum Preis von 17 EUR erhältlich.

Das Jüdische Museum dankt dem Jahressponsor Austrian Airlines für die Unterstützung der Ausstellung.

Hintergrundinformationen zum Projekt
Die Ausstellung ist ein unkonventionelles Projekt sowohl in ihrer Gestaltung als auch in ihrer Entstehung. Am Beginn steht die am New Yorker Leo Baeck Institute beheimatete Austrian Heritage Collection. Hier interviewen seit 1995 österreichische Zivildiener aus Österreich vertriebene Juden und sammeln Dokumente zur Emigration. Die Austrian Heritage Collection ist inzwischen eine der wichtigsten oral history-Sammlungen zur österreichischen Zeitgeschichte, die Ausstellung ermöglicht einen ersten Einblick. Konkretisiert hat sich das Projekt durch die Idee des ehemaligen New Yorker Zivildieners und Architekten Christian Prasser, eine Ausstellung um diese Begegnungen zwischen "jungen, alten und ehemaligen Österreichern" zu gruppieren. Zwei weitere ehemalige "New Yorker" kamen zum Team dazu: Niko Wahl als Kurator und Thomas Geisler als Grafiker.
Die Gedenkdiener nennen als Gründe für ihre Arbeit: Weil sie die Geschichten ihrer Gesprächspartner, der in Österreich geborenen und aus ihrer Heimat vertriebenen Menschen, weitererzählen wollen. Weil sie als junge Österreicher zuvor nach New York gegangen sind, um diese Menschen, die sich selbst Emigranten, Vertriebene, Survivors, ehemalige Österreicher oder einfach Amerikaner nennen, zu suchen. Und sie erklären als Gründe für das von den Emigranten entgegengebrachte Vertrauen erstens ihr eigenes Alter, das sie von Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs ausschließt, zweitens sowohl ihren Mitarbeiterstatus im Leo Baeck Institute, also einer New Yorker jüdischen Institution, als auch ihre Affinität zum Österreichischen Nationalfonds und drittens ihr eigenes, sensibles Auftreten.
Die Begegnungen der Gedenkdienstleistenden mit den Emigranten stehen daher im Mittelpunkt der Ausstellung. Durch die Interviews und Dokumente werden die jungen Österreicher gemeinsam mit den Emigranten vorgestellt. Die Besucher erfahren nicht nur über die Lebensgeschichten und Lebensgewohnheiten der Emigranten oder über ihre aufrechte oder unterbrochene Beziehung zu Österreich. Sie erfahren auch, warum 60 Jahre nach dem Holocaust junge Österreicher auf die Idee kommen, ältere, einst aus Österreich geflüchtete Menschen zu befragen. Die Ausstellung berichtet auch über die emotionalen Stresssituationen, in denen sich sowohl die jungen als auch die alten Menschen in diesen Treffen wiederfinden und bezieht auch die Besucher als Dialogpartner mit ein. Sie führt die BesucherInnen an die Orte der Begegnungen zwischen Emigranten und Gedenkdienstleistenden. Die zumeist wienerisch anmutende Atmosphäre der New Yorker Wohnungen hat der Fotograf Arno Gisinger auf Panoramafotos festgehalten. Diese Fotografien lassen durch ihr großes Format selbst neue Räume in der Ausstellung entstehen. Die Interviews, die Sie in diesen Räumen hören können, lassen erahnen, warum es möglich ist, dass junge Österreicher, deren Großeltern aus der Tätergeneration stammen, und vertriebene österreichische Juden einander vertrauen.

Audio Interviews und Fotografien
Die Audio Interviews mit den österreichisch-jüdischen Emigranten, die Sie in dieser Ausstellung hören können, entstanden alle in New York. Sie sind eine Auswahl aus zahlreichen Gesprächen, die dreizehn Gedenkdienstleistende seit 1995 aufgenommen haben. Diese kleine Auswahl an Gesprächen und Gesprächspartnern gibt einen Einblick in die zahlreichen Interviews der Austrian Heritage Collection im New Yorker Leo Baeck Institute. Den Biografien können Sie entnehmen, wer mit wem die Gespräche geführt hat.
Die Fotografien stammen von Arno Gisinger. Zusammen mit ehemaligen Gedenkdienern besuchte er die New Yorker Gesprächspartner im Februar dieses Jahres. Wie einst die Zivildiener, so ist auch er mit seiner Kamera von den Emigranten in ihren New Yorker Wohnungen empfangen worden.

Video Interviews
Die ehemaligen und momentanen New Yorker Gedenkdienstleistenden trafen sich im Frühjahr dieses Jahres mit Werner Hanak, einem der Ausstellungskuratoren, zu einem Gespräch. Hier standen die Motive und Erwartungen für den New-York-Aufenthalt und die Lebensgeschichten der jungen, nichtjüdischen Österreicher im Mittelpunkt. Die Gespräche wurden auf Video festgehalten. An den Biografien können Sie erkennen, wer in New York auf welchen Gesprächspartner getroffen ist.

Die Kooperationspartner
An der Ausstellung sind mehrere Kooperationspartner beteiligt. Das Leo Baeck Institute ist ein New Yorker Studien-, Recherche- und Ausbildungszentrum zur deutschsprachigen jüdischen Geschichte. Hier arbeiten auch die beiden österreichischen Gedenkdiener, die jeweils 14 Monate in New York ihren österreichischen Zivildienst ableisten. Das Leo Baeck Institute beherbergt die Austrian Heritage Collection, die die Basis dieser Ausstellung darstellt. Seit kurzem gibt es auch in Berlin ein Leo Baeck Institute (Internet: www.lbi.com).
Der Nationalfonds der Republik Österreich wurde 1995 gegründet. Durch ihn sollte an "das unermessliche Leid erinnert werden, das der Nationalsozialismus über Millionen von Menschen gebracht hat und der Tatsache gedacht werden, dass auch Österreicher an diesen Verbrechen beteiligt waren" (Bericht des Verfassungsausschusses). "Durch die Errichtung des Nationalfonds soll den Opfern in besonderer Weise Hilfe zukommen, wobei wir natürlich wissen, dass das zugefügte Leid nicht 'wiedergutgemacht' werden kann." (Nationalratspräsident Dr. Heinz Fischer). Der Nationalfonds hat die Ausstellungsstation in New York finanziell wesentlich unterstützt (Internet: www.nationalfonds.parlament.gv.at).
Der Verein Gedenkdienst wurde 1992 gegründet und heißt mit vollem Namen "Verein zur Leistung eines Gedenkdienstes an Holocaust-Gedenkstätten". Das zehnjährige Jubiläum des Vereins ist mit ein Grund für die Ausstellung im Jüdischen Museum. Die Ziele des Vereins bestehen u.a. darin, Aufklärungsarbeit und Bewusstseinsbildung über die Auswirkungen des Nationalsozialismus in Österreich zu leisten. Der Verein Gedenkdienst entsendet jährlich ca. 25 junge österreichische Zivildiener an Holocaust-Gedenkstätten in Europa, Amerika und Israel. Der Verein Gedenkdienst ist Kooperationspartner in der Ausstellung, zwei der Ausstellungskuratoren und drei weitere Mitarbeiter der Ausstellung sind ehemalige Gedenkdienstleistende und Mitglieder beim Verein Gedenkdienst. (Internet: www.gedenkdienst.at)

* Der Gedenkdienst ist eine anerkannte Ersatzform der allgemeinen Wehrpflicht in Österreich. Der Verein Gedenkdienst entsendet jährlich ca. 25 jugendliche Österreicher zu Holocaustgedenkstätten und damit verbundenen Institutionen (Holocaust Memorials and related institutions) in Europa, Amerika und Israel.