Kleine Chronologie ab 09. September 2002

     
Kanzler Schüssel fürchtet sich nicht vor einem Wählervotum
Nach dem schon mehrfach angekündigten und nun endgültigen Rücktritt von FP-Vizekanzlerin Dr. Susanne Riess-Passer, Finanzminister Mag. Karl-Heinz Grasser und Klubobmann Ing. Peter Westenthaler gibt es am Montag (09. 09.) kaum noch Zweifel über das Ende der VP-FP-Koalitions-Regierung. Wie das Radio-Morgenjournal auf ORF1 berichtete, hat auch Dr. Hubert Gorbach, FP-Vizeparteichef und Landeshauptmann-Stv. Vorarlbergs, seine Funktion in der Partei zurückgelegt. Die Landespartei-Obmänner zeigen sich hingegen teils betroffen, teils überrascht von der gestrigen Entwickling. Es scheint, als habe man nicht damit gerechnet, daß vor allem Riess-Passer ihre Rücktrittsdrohung wirklich wahrmacht und - zu große Hoffnungen in den Einfluß Jörg Haiders gesetzt, von dem man wohl erwartet hat, er würde letztendlich "wieder alles in den Griff bekommen".
Sollte Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel die erst zu nominierenden Nachfolger in der neuen FP-Regierungsmannschaft nicht akzeptieren, wovon viele Kommentatoren ausgehen, könnte das Parlament demnach am 19. September aufgelöst werden. Schüssel verfügt jedenfalls über ein größte Entscheidungsfreiheit, wie VP-Generalsekretärin Dr. Maria Rauch-Kallat in einem ORF-Interview feststellte. Mögliche Termine für die Wahl zum Österreichischen Nationalrat könnten der 17. oder 24. November sein. Übrigens: Von den bisher 17 gewählten Regierungen der Zweiten Republik haben acht ihr geplantes "Ablaufdatum" nicht erreicht.

Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel: Fürchte mich nicht vor einem Wählervotum
Nur noch wenige Stunden vor der Rücktritts-Bekanntgabe gab Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel in einer Rede beim Erntedankfest des Bauernbundes am Heldenplatz in Wien seiner Hoffnung Ausdruck, es würde - bei den FP-Verhandlungen im Ministerium der Vizekanzlerin - doch noch zu einem Kompromiß kommen. Er stellte fest, er habe kein Verständnis dafür, dass derzeit manche "in kleinlichem Streit ihre Regierungsmannschaft in Schwierigkeiten" brächten. Es könne sein, "dass in einer solchen Situation der Wähler entscheiden muss. Ich fürchte mich nicht vor diesem Votum", betonte der Kanzler. Spät abends teilt Schüssel dann in einer Presseaussendung mit, er bedauere aufrichtig die Entscheidung von Riess-Passer, Grasser und Westenthaler und danke für die erfolgreiche partnerschaftliche Zusammenarbeit im Interesse Österreichs. Er werde am Montag ein Gespräch mit Bundesminister Herbert Scheibner, der interimistisch der FPÖ vorstehen werde, führen und danach dem Bundespräsidenten berichten. Anschließend werde die Öffentlichkeit von der weiteren Vorgangsweise informiert.

Gerüchte sprechen davon, daß noch der eine oder andere Rücktritt eines hohen FP-Funktionärs folgen könnte.

Mögliche Szenarien:
1. Bundeskanzler Schüssel akzeptiert eine massive Umbesetzung im FP-Regierungsteam und die Koalition arbeitet, unter den neuen Voraussetzungen, an den anstehenden Problemen weiter. Diese Variante scheint eher unwahrscheinlich, würde doch die teilumgebildete Koalition noch viel stärker von Haiders Vorgaben abhängig sein.
2. Der Bundeskanzler akzeptiert die neue Situation nicht und gibt dem Bundespräsidenten die Auflösung der Regierung bekannt. Nun kann er, und diese Möglichkeit besteht nur mehr hypothetisch, anbieten, daß die ÖVP in Form einer Minderheitsregierung weiterarbeitet - was SPÖ-Chef Dr. Alfred Gusenbauer aber bereits ausgeschlossen hat. Dies schient schon deshalb unwahrscheinlich, da eine antragsbezogene Mehrheitenfindung im Parlament kaum zielführende Regierungsarbeit zuläßt. Wahrscheinlicher sind daher Neuwahlen, die bereits im November abgehalten werden würden.
   
SP-Bundesgeschäftsführerin Doris Bures: Neuwahlantrag der SPÖ liegt im Parlament
"ÖVP-Chef Schüssel und der de facto-Vorsitzende der FPÖ, Haider, stimmen nun endlich darüber überein, dass diese Regierung am Ende ist", sagte Bures zu den von beiden Seiten ausgesprochenen Neuwahl-Ankündigungen. Diese "Selbsterkenntnis der eigenen Handlungsunfähigkeit" müsse nun auch tatsächlich zu Konsequenzen führen und Österreich die Möglichkeit der dringend notwendigen Neuordnung der politischen Verhältnisse geben. "Der Neuwahlantrag der SPÖ liegt im Parlament", so Bures bereits am Samstag gegenüber dem SPÖ-Pressedienst. Die SPÖ sei jederzeit bereit, diesen Antrag zur Abstimmung zu bringen.

Grünen-Sprecher Prof. Dr. Alexander Van der Bellen sieht Riess-Passer als von der FPÖ neuerlich desavouiert und gedemütigt. Haider habe die Regierungsmannschaft bewußt demontiert.

Bundespräsident DR. Thomas Klestil äußert sich vorerst nicht und läßt verlauten, er würde Kanlzer und Vizekanzlerin am Montag (09. September) zu einem Gespräch in der Hofburg erwarten.

Ausgelöst wird diese Situation durch einen FPÖ-Vorstands-Beschluß am 14. August, die für 2003 geplante Steuerreform zu verschieben. Unmittelbar darauf folgt eine Stellungnahme Jörg Haiders, der diese Steuerreform trotz der Hochwasserkatastrophe und einen Sonderparteitag der FPÖ fordert. Dort müsse dieser "Verschiebungs-Beschluß" rückgängig gemacht werden. Dagegen spricht sich die Vizekanzlerin sofort aus und kündigt ihren Rücktritt an, sollte es dazu kommen. Auch Finanzminister Grasser stellt seinen Rücktritt in Aussicht, sollte die Steuerreform auf solche Weise erzwungen werden.
Zwei Wochen später kündigt Haider ein Volksbegehren mit dem Titel "Steuerreform statt Abfangjäger" an, was Riess-Passer mit der Überlegung beantwortet, eine Volksbefragung einzuleiten, in der die Bevölkerung entscheiden solle, ob die Regierung auf dem geplanten Weg weiterarbeiten sollte: also "Verschieben der Steuerreform - oder nicht". Daraufhin zieht sich Jörg Haider - wir berichteten darüber - "aus der Bundespolitik zurück".
Unmittelbar darauf fordern einige Landesparteigruppen der FPÖ die Einberufung eines Sonderparteitages und innerhalb von zwei Tagen liegen dann rund 400 Pro-Stimmen zur dessen Abhaltung vor. Diese Stimmen-Anzahl verpflichtet den Parteivorstand zur Einberufung. Daraufhin ruft Riess-Passer eine Bundespartei-Vorstandssitzung ein, in der beraten wird, wie mit der neuen Situation umzugehen wäre. Nach 12 Stunden wird bekanntgegeben, daß es bei Einberufung des Sonder-Parteitages zum Rücktritt der gesamten Regierungsmannschaft kommen würde. 
   
Jörg Haider lädt für Samstag, 7. September, die Delegierten zu einer Sitzung ins steirische Knittelfeld, wo ein Kompromißpapier beraten und schließlich beschlossen wird: Die Entscheidung, wann und in welcher Form die Steuerreform kommen soll, wird bis Jänner aufgeschoben, eine Kommission soll eingesetzt werden, die die weitere Parteilinie der FPÖ in Themen wie EU-Ost-Erweiterung, Benes-Dekreten etc. vorgeben soll. Das Druckmittel für die Regierungsmannschaft, die Stimmen für den Sonderparteitag, wird aber nicht zurückgenommen. Und die Delegierten nehmen mit Beifall zur Kenntnis, daß Jörg Haider wieder in den Koalitionsausschuß zurückkehren würde.
Zu diesem Zeitpunkt weilt Riess-Passer bei einer Landespartei-Sitzung im Burgenland und wird von Reportern mit den Ergebnissen des Treffens in Knittelfeld konfroniert. Knapp stellt sie fest, sie werde tags darauf dazu Stellung nehmen.
Am Sonntag (08. September) 21 Uhr gibt Riess-Passer schließlich bekannt, daß sie ihre Funktionen in der Bundesregierung und im FPÖ-Bundesparteivorstand zurücklegt. Im Rahmen dieser Pressekonferenz teilt auch Finanzminister Mag. Karl-Heinz Grasser mit, daß er sich aus der Politik zurückzieht.
Riess-Passer stellt fest, daß "uns diese Entscheidung sehr schwer fällt". Alle Versuche, die in den letzten Wochen in der FPÖ entstandene Kluft zu kitten, seien fehlgeschlagen, sie müsse daher als Parteichefin die Konsequenzen ziehen. Am 20. Oktober werde über die Neubesetzung der Positionen beraten. Bis dahin würde ihr bisheriger Stellvertreter, Verteidigungsminister Herbert Scheibner, die FPÖ leiten. Schließlich bedankt sich Riess-Passer bei Bundeskanzler Schüssel, den Regierungskollegen in der ÖVP und ihren Mitarbeitern für die hervorragende Zusammenarbeit.
Grasser stellt fest, er habe sich im "Team der Vizekanzlerin sehr wohlgefühlt. Da dies jetzt nicht mehr geht", trete er von seiner Funktion zurück. "Wir haben uns das alles andere als leicht gemacht, wir haben Gespräche geführt und ertragen", so Grasser, er habe in Knittelfeld noch versucht, eine Einigung herzustellen. Wichtigste Voraussetzung sei gewesen, daß "wir gestalten und arbeiten, für Beschäftigung, Wohlstand, einen interessanten Standort und Wettbewerbsfähigkeit sorgen können. In dieser Situation können wir nichts mehr dazu beitragen, Vorhaben nicht umsetzen - und können die Erwartungen der Bevölkerung nicht erfüllen."
Westenthaler: "Der Riß, der durch den FP-Parlamentsklub ging", so stellte der Klubobmann fest, "machte es inhaltlich unmöglich, weiterzuarbeiten." Er habe künftig keine Möglichkeit mehr gesehen, Mehrheiten für Entscheidungen sicherzustellen. (mm)
   
Österreich wird voraussichtlich im November wählen!
Am Montag (09. 09.) um 15.04 Uhr gab Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel eine vom ORF live übertragene Pressekonferenz, in der er feststellte, daß die ÖVP mit dem derart gespaltenen Koalitionspartner FPÖ nicht weiter arbeiten wolle. Schüssel würde am Dienstag (10. 09.) dem VP-Bundesparteivorstand vorschlagen, zum nächstmöglichen Termin Neuwahlen abzuhalten.
Bundespräsident Dr. Thomas Klestil erklärte in der ORF "Zeit im Bild 1", er habe dem sowohl dem Bundeskanzler als auch den anderen seiner heutigen Besuche hochrangiger Politiker seine Position dargestellt. Klestil wünsche demnach so rasch wie möglich eine handlungsfähige Regierung - ein Provisorium wäre dazu nicht in der Lage. Er begrüße, daß die Wähler so bald als möglich eine Entscheidung treffen könnten. Von einer neuen Regierung erwarte er sich Stabilität, daß sie im In- und Ausland Ansehen genieße und die vielen anstehenden Probleme lösen könne.
Zwei weitere Rücktritte zählte man noch in der FP-Führungsmannschaft: Am frühen Morgen gab der stellvertretende FP-Parteivorsitzende, Hubert Gorbach, im ORF-Radio "Morgenjournal" bekannt, daß er für diese Funktion nicht mehr zur Verfügung stehe (Gorbach ist Landeshauptmann-Stellvertreter in Vorarlberg, diese Funktion steht aber außer Debatte). Der zweite Rücktritt kommt mit Verkehrsminister Mathias Reichhold, der mittags seine Entscheidung bekanntgab. Reichhold wird sich, wie er meinte, aus der Politik vollkommen zurückziehen.

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