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Staat oder Privat?
Europäische Gesundheitssysteme am Scheideweg
Gastein (ehfg) - Europa, quo vadis, mit deiner Gesundheit? Wie sollen sich die europäischen Gesundheitssysteme den veränderten Rahmenbedingungen anpassen? Können sie weiterhin von öffentlicher Hand finanziert werden oder können gewisse Dienstleistungen nur mehr durch Privatversicherungen abgedeckt werden? Das ist eine der Kernfragen, die beim 5. European Health Forum Gastein von mehr als 450 Experten, Politiker, NGOs und Betroffenen aus 35 europäischen Staaten im Salzburger Kurort Bad Hofgastein diskutiert werden.

Keine Zwei-Klassen-Medizin!
"Man kann grundsätzlich auf zwei Arten mit Gesundheitssystemen umgehen", erläuterte vor kurzem die Salzburger Vize-Landhauptfrau Mag. Gabi Burgstaller, "entweder man privatisiert sie, wie das in den USA und vielen Entwicklungsländern der Fall ist. Oder man betrachtet sie als zentrale öffentliche Aufgabe eines Staates, der die Versorgungspflicht für seine Bürger übernimmt." Sie favorisiert die zweite Lösung mit dem Argument "Wir wollen keine Zwei-Klassen-Medizin!". Ein frommer Wunsch für die Zukunft? Denn de facto gibt es keine Ein-Klassen-Medizin in Europa und auch kein Gesetz, das gleichen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen für alle festschreiben würde. So unterschiedlich die Gesundheitssysteme in der EU auch hinsichtlich ihrer Organisation und Finanzierung sind, es gibt nirgendwo alles gratis. Ambulanz- und Krankenscheingebühren, Selbstbehalte oder Leistungen, für die die Krankenkassen nicht mehr aufkommen - all das gehört bereits zur Tagesordnung. Die einen trifft es härter, die anderen bringen es leichter auf. Kann und will sich jemand eine Zusatzversicherung leisten, wird er jedenfalls schneller und besser versorgt als der Durchschnitt.

Mehr Cash, mehr Gesundheit
Je nach der historischen Entwicklung eines nationalen Gesundheitssystems ist die Tradition, sich mit "freiwilligen" Zusatzversicherungen zu versorgen, unterschiedlich ausgeprägt. Durch die verschiedenen Arten der Selbstversicherungen können die Systeme nur schwer miteinander verglichen werden. Eine jüngst von der Europäischen Kommission (Directorate General for Employment and Social Affairs) präsentierte Studie über "Freiwillige Selbstversicherung" (FSV) zeigt jedoch klar, dass es gewaltige Klassenunterschieden zwischen den Selbstversicherten gibt. Personen, die eine supplementäre Versicherung abgeschlossen haben, leisten sich sozusagen die S-Klasse: Sie sichern sich eine größere Auswahl bei den medizinischen Dienstleistungen und können damit rechnen, früher als andere einen Krankenhausplatz, eine Untersuchung, eine Spezialbehandlung etc. zu bekommen. Supplementär-Versicherte stammen aus reicheren Regionen und gehören zu den höheren Einkommensklassen.
Etwas weniger elitär steht es um den Abschluss einer komplementären Versicherung: Mit ihr werden diverse Gesundheitsdienstleistungen gedeckt, für die der Staat einen Selbstbehalt fordert oder gar nicht dafür aufkommt. Der Personenkreis, der sich mit diesem Typ von Versicherung ausstattet, ist vom Einkommens- und Sozialstatus her heterogener. Eines springt allerdings ins Auge: Wer definitiv nicht in eine Zusatz-Versicherung investiert, weil er nichts zum Investieren hat, sind z.B. Arbeitslose, alte Menschen, alleinerziehende Mütter oder Studenten. Das ökonomische Gefälle ist nicht zu übersehen.

 
Sparpakete erhöhen die Selbstversicherungsquote
Bislang spielten freiwillige Selbstversicherungen eine untergeordnete Rolle in den EU-Mitgliedsstaaten. 1998 lagen die Ausgaben dafür in allen Staaten unter zehn Prozent der Gesamtausgaben für die Gesundheit. Ausnahme davon waren Frankreich 12,2 Prozent) und die Niederlande (17,7 Prozent). In Belgien, Dänemark, Finnland, Griechenland, Italien, Luxemburg, Portugal, Spanien, Schweden und Großbritannien lagen sie sogar unter fünf Prozent.
Wenn in den letzten zwanzig Jahren der Anteil an privaten Ausgaben im Gesundheitsbereich gestiegen ist, so hat das mit den Kürzungen bei den Gesundheitsausgaben und den vermehrten erhöhten Selbstbehalten zu tun und sicher nicht mit der grundsätzlichen Begeisterung für freiwillige Selbstversicherung, wie die Studie der Europäischen Kommission aufzeigt. Selbstversicherungen sind nach einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung (2000/01) ein rotes Tuch für die Versicherten. Zumindest in Deutschland: Lediglich 35% der Befragten können sich vorstellen, zusätzlich Euros für die Krankenversicherung locker zu machen. 53% befürworten nach wie vor eine umfassende Absicherung aller Krankheitsrisiken. Eine Erhebung der deutschen Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) förderte ähnliche Resultate zutage: Von 3.000 Befragten würden 70% wohl sogar generell höhere Kassenbeiträge akzeptieren, wenn nur die allgemeine Deckung aller Gesundheitsrisiken bliebe.

Sogar Selbstversicherung nur für Reiche, Junge und Gesunde?
In manchen Staaten besteht ein großes Angebot an Dienstleistungen. Verwirrend groß und undurchschaubar für die Kunden. Seitens der Anbieter ist der Wille gering diese Verwirrung durch eine standardisierte Terminologie zu verringern. Ende 2001 hat Großbritannien schließlich den Vorstoß gewagt und angekündigt, Versicherungsgeschäfte staatlich zu reglementieren. Das begünstige einen wirklichen Wettbewerb unter Anbietern zum Vorteil der Kunden.
Neben mangelhafter Transparenz bei den Angeboten gibt es einen weiteren Minuspunkt bei manchen freiwilligen Selbstversicherungen: Nicht einmal sie stehen allen zur Verfügung. Es kann verschiedene Zugangsbarrieren geben, z. B. Alterslimits, die einen Versicherungserwerb ab einem gewissen Alter ausschließen. Meist liegt die Grenzen zwischen 60 und 75 Jahren. Manche Verträge enden sogar, wenn der Klient das Rentenalter erreicht. Einige Staaten haben auf diese Beschränkungen bereits reagiert, damit nicht gerade diejenigen, die besonders einer Zusatzversicherung bedürften, durch den Rost fallen: In den letzten Jahren haben die Regierungen von Deutschland, den Niederlanden und Belgien massiv in den Markt eingegriffen, damit auch Personen mit geringerem Einkommen, gesundheitlichen Vorbelastungen oder ältere Menschen leistbare, adäquate Zusatzversicherungen abschließen können. In Irland müssen die Versicherungen freien Zugang für alle gewährleisten, in Schweden dürfen keine Fragen nach genetischen Vorkonditionierungen wie etwa Familienkrankheiten gestellt werden. 

 
Ein künftiger Selbstversicherungsboom?
Die Zukunft der privaten Versicherungen wird von der Entwicklung der staatlichen Gesundheitssysteme abhängen. Im Moment scheint der Markt saturiert zu sein. Billiger kommen die freiwilligen Selbstversicherungen den Konsumenten keinesfalls. In den USA, wo nahezu das gesamte Gesundheitssystem auf privater Vorsorge basiert, wird ein größerer Anteil des BIP in die Gesundheit investiert, als in jedem EU-Staat: Im Jahr 2000 steckten die USA ganze 13 Prozent hinein. Dennoch leben rund 50 Mill. Menschen ohne jede Versicherung. In Finnland waren es im selben Jahr nur 6,6 Prozent, in Großbritannien 7,3 Prozent, in Österreich 8 Prozent. Belgien, als der EU-Staat mit den höchsten Gesundheitsausgaben, gab auch nicht mehr als 9,5 Prozent aus. Dr. Franz Terwey, Direktor der European Social Insurance Partners und einer der Vorsitzenden beim 5. European Health Forum Gastein, bezeichnet die Versprechungen Privater, billiger und besser zu sein als solidarische Gesundheitssysteme, als ein "Lügengebäude". Privatversicherungen versuchten, aus der Gesundheit ein Geschäft zu machen, aber "an der Gesundheit ist nichts zu verdienen. Eine effiziente Versorgung, die alles abdeckt, kann nicht privat sein". Sie sei nur durch kollektives Finanzieren zu gewährleisten. Idealerweise sollte jeder nach Möglichkeiten seines Einkommens Versicherungsbeiträge leisten, so wie es z.B. in der Schweiz oder in Österreich der Fall ist. Damit wüssten die Bürger auch, wohin das Geld fließe und würden bewusster mit den Ressourcen umgehen. "Was wir brauchen, sind nicht nur gesunde Menschen, sondern auch eine zusammenhaltende Gesellschaft", unterstreicht Terwey, "Wir brauchen Social Profit und nicht den Profit von nebulösen Versicherungen. Den Gewinn von Shareholdern, also den Versicherten, und nicht den von den Stakeholdern". Erst kürzlich sei beim Gipfel von Johannesburg sozialer Nachhaltigkeit massiv gefordert worden.
Public-Private-Mix: Kollaboration statt Konkurrenz Strasimir Cucic vom Dutch Institut for Healthcare Improvement, einer der Referenten beim 5. EHFG, schlägt vor, einen neuen Zugang beim Public-Private-Mix zu suchen. Es ginge nicht primär darum, genau auszutaxieren, welche Dienstleistungen vom Staat oder von Privaten angeboten würden. Vielmehr gelte es, neue Vorgangsweisen und Systeme zu entwickeln, um die Qualität und die Sicherheit von Gesundheitsdienstleistungen zu verbessern und durch ständige Evaluation zu sichern. Zudem bedürfe es einer breiten Akzeptanz für die neue Teilung zwischen individueller und sozialer Verantwortung, die medizinisches Personal, Patienten und politischen Einscheidungsträger zugleich tragen müssten. Ob es dann öffentliche oder private Organisationen sind, die mit dem Qualitätsmanagement betraut sind oder Gesundheitsdienstleistungen anbieten, sei dann nicht mehr das entscheidende Problem. Kollaboration, nicht Konkurrenz zwischen den Gesundheitsdienstleistern? Grundsätzlich eine Option. Den Public-Private-Mix finde ich per se nicht falsch", lautet das Urteil von Dr. Terwey, "vorausgesetzt, es besteht ein hohes Maß an staatlicher Regulierung und Zertifizierung". Die Angebote müssten außerdem von hoher Qualität und frei zugänglich für alle sein. Er unterstreicht nachdrücklich: "Gesundheit ist ein öffentliches Gut!"

5. EUROPEAN HEALTH FORUM GASTEIN
zur Zukunft der Gesundheit in Europa – vom 25. bis 28.9.2002
International Forum Gastein
Tauernplatz 1
A-5630 Bad Hofgastein
www.ehfg.org