Villepin betont Österreichs Stellenwert im Erweiterungsprozess
Wien (pk) - Der französische Außenminister Dominique de Villepin erklärte im Rahmen
seines Vortrages: Meine Damen und Herren! Es ist mir eine Freude, heute in Ihrer Mitte zu weilen, und ich danke
Ihnen für die besondere Ehre, die Sie mir erweisen, indem Sie mich in diesem großartigen Rahmen, im
Herzen Ihrer Demokratie und Ihres politischen Lebens, empfangen. Diese Freude empfinde ich umso lebhafter, als
dieser Besuch zu einem entscheidenden Zeitpunkt im so oft bewegten Schicksal unseres europäischen Kontinents
erfolgt.
Mit dem Entwurf einer Verfassung hat Europa sich ein neues Ziel gesteckt und will nicht mehr nur eine wirtschaftliche
Großmacht sein, die sich auf einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung gründet. Europa
hat seine Rolle auf der internationalen Bühne voll wahrzunehmen, um zu jenem politischen Akteur zu werden,
den alle Partner der Union weltweit herbeiwünschen. Jedes Mal wenn Europa sich neuen Perspektiven öffnet,
macht es einen Schritt voran. Mut und Erfindungsreichtum sind die Bedingungen seiner Existenz.
Gerade hier in Wien, in dieser kosmopolitischen Stadt, die Montesquieu mit einem modernen Babel verglichen hatte,
möchte ich wieder einmal der Hoffnung einer Öffnung Europas zur Welt Ausdruck verleihen. In dieser Hauptstadt
europäischer Kultur möchte ich auf die gemeinsame Geschichte unserer beider Länder zu sprechen kommen,
eine Geschichte, die erkennen lässt, wie dringend wir Europa brauchen.
Ist die Geschichte unseres Kontinents nicht die eines langen Lernprozesses, einer Alchimie, die Unterschiedlichkeit
zu Komplementarität werden ließ? Der Reichtum unserer heutigen Vielfalt liegt doch gerade in der endlich
wieder gegebenen Möglichkeit, unsere Differenzen auszuleben, anstatt uns in ihrem Namen zu entzweien.
Die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern geben ein Bild dieses gemeinsamen Weges durch die Jahrhunderte.
Gemeinsam ist uns das Erbe einer ruhmreichen Vergangenheit, jener zweier europäischer Großmächte.
Lange Zeit blickte das französische Königreich auf das habsburgische Kaiserreich. Als Nachfolger des
Heiligen römischen Reichs deutscher Nation übte dieses Reich auf uns eine starke Faszination aus, von
Victor Hugo bis zu Napoleon, der davon träumt, in Aachen gekrönt zu werden. Von Kaiserreich zu Kaiserreich
verbanden uns die Hegemoniebestrebungen unserer beiden miteinander rivalisierenden Mächte.
Unsere beiden Hauptstädte tragen die Spuren dieser großartigen Geschichte. Sie kann überall abgelesen
werden, in der Prunkentfaltung der eng miteinander verwandten Schlösser Versailles und Schönbrunn, in
der architektonischen Prägung von Paris durch Haussmann ebenso wie im kaiserlichen Wien, das sich in konzentrischen
Kreisen rund um die Ringstraße entfaltete.
Durch unsere Kultur drücken wir spiegelbildliche Indentitäten aus.
Im 17. Jahrhundert spiegelte die französische Klassik eine Geistesprägung wider, die durch kartesianische
Rationalität und den Kult des Willens bei Corneille bestimmt war; das habsburgische Barock hingegen war Ausdruck
des Triumphs der katholischen Gegenreformation, die in einer für alle Sinnesfreuden offenen Kultur erlebt
wurde: Man denke nur an die Ausschmückung der Nationalbibliothek oder des Stiftes Melk. Auch auch in unseren
Werken kam unsere Angst vor ungewissem Schicksal zum Ausdruck. Und es sind schließlich die Romane Robert
Musils, die das Ende des Habsburgerreiches und damit auch die epochalen Veränderungen für ganz Europa
am besten verständlich erscheinen lassen. Die gequälten Körperdarstellungen Schieles, die in weich
fallende Stoffe gehüllten Figuren Klimts und die grellen Farben der Fauvisten bieten uns die gleichermaßen
übersteigerte Wahrnehmung einer Welt, die dem Zweifel erliegt.
Unsere beiden Kulturen, die einander stets wahrnahmen, wurden durch ungewöhnlich intensive Austauschbeziehungen
gestärkt.
Von der Modernität der Zauberflöte im höchsten Maße angetan hat Frankreich nie seine leidenschaftliche
Liebe zu Mozart verleugnet. Unsere Bewunderung für die österreichische Musik hat auch unsere eigene Geschichte
geformt, von unserer Liebe zu Schubert bis hin zur unübertroffenen Neuinterpretation der Werke Schönbergs
und der Wiener Schule durch Pierre Boulez. Lange bevor eine große Ausstellung im Centre Pompidou die Wiener
Moderne würdigte, hatten Rodin und die Künstler der Sezession intensive und fruchtbare Beziehungen geknüpft.
Diese gegenseitige Bereicherung unserer Kulturen setzt sich heute in jenen ausdrucksstarken Seiten fort, die Peter
Handke den sich selbst überlassenen Pariser Vororten widmet sowie in der Interpretation des selbstquälerischen
Stils Elfriede Jelineks durch Isabelle Huppert, unter der Kameraführung und Regie des Österreichers Michael
Haneke.
Auch in den Verletzungen, die sie uns zugefügt hat, einigt uns die Geschichte: zuerst Krieg; danach die erlebte
Barbarei.
Eine Tatsache lässt sich nicht verleugnen: Der Gegensatz zwischen unseren Ländern hat Europa Jahrhunderte
lang in Kriege gestürzt. Nur, konnten denn zwei katholische Anwärter auf die europäische Hegemonie
sich anders verhalten? Durch die – glücklicherweise - erfolgte Umkehrung der Allianzen fanden wir uns zuletzt
vereint und Europa erlebte 30 Jahre des Friedens und der Prosperität. Es bedurfte der mutigen Entschlossenheit
eines Duc de Choiseul und eines Grafen von Kaunitz, um dieses revolutionäre Umdenken in die Tat umzusetzen,
doch sollte es von kurzer Dauer sein. 1815 vermeinte Fürst Metternich in Wien ein Gleichgewicht dadurch zu
schaffen, dass er die Rivalität unserer jeweiligen Machtbestrebungen organisierte. Ein Jahrhundert später
dachte man in Versailles jede Art von mörderischer Auseinandersetzung auf europäischem Boden ausgeschlossen
zu haben. Doch konnte man auf beiden Seiten, bei Stefan Zweig ebenso wie bei Roman Rolland, eine Vorahnung der
Bedrohung des Friedens erkennen und war erfüllt vom gleichen Grauen vor Krieg und den mit ihm heraufziehenden
Schrecken.
Die Geschichte unserer beider Länder ist auch mit dem Makel der Barbarei behaftet. Ich denke an all jene,
die, wie Joseph Roth oder Soma Morgenstern vor der Bedrohung durch die Naziherrschaft ins Exil gehen mussten. Viele
von ihnen fanden Zuflucht in Frankreich, von wo sie jedoch der Krieg wieder vertrieben und einem neuen Schicksal
überlassen hatte. Wir wissen, dass in Frankreich wie in Österreich manche Seiten unserer Geschichte uns
Verantwortung für schwere Schuld zuweisen. Wir wissen auch, dass Intoleranz, Fremdenhass und die hasserfüllte
Ablehnung des Anderen stets neu aufkeimen können. Im Bewusstsein dieser Anfälligkeit ermessen wir die
Pflicht der Erinnerung, die wir zu erfüllen haben.
Diese Verletzungen waren es, die unseren Willen gestärkt haben, ein wirklich europäisches Schicksal zu
begründen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt sich das Bewusstsein der Notwendigkeit eines vereinten Europas durch. Denken wir
an den Weitblick des Generals Bethouart, der in seinem Buch „Combat pour l’Autriche“zum Ausdruck kommt. Indem er
die Österreicher Tirols an der Erfüllung seines Mandats teilhaben ließ, schmiedete er mit ihnen
Bande der Freundschaft, an die sie sich noch 50 Jahre, nachdem er das Land verlassen hatte, bewegten Herzens erinnern.
So verlieh er dem Geist der Aussöhnung Ausdruck durch die Anregung zur Gründung der Bregenzer Festspiele
und setzte sich für die Gründung des Lycée francais und des französischen Kulturinstituts
in Wien ein, Institutionen, die heute noch unsere Freundschaft und die Verbindung unserer jeweiligen Identitäten
lebendig erhalten.
Wir durchleben jetzt eine Zeit der Prüfungen. In der Ungewissheit, in der wir uns jetzt befinden, denke ich
oft an Stefan Zweig, der, den Schuss erwähnend, der in Sarajewo im Juni 1914 gefallen war, sinngemäß
sagt, dass durch diesen Schuss die Welt der Sicherheit, der schöpferischen Vernunft, in der er aufgewachsen
war, wie ein hohles Gefäß in tausend Stücke zerschmettert worden war. Mit dem Fall der Berliner
Mauer und, vor kurzer Zeit, den Attentaten des 11. September haben wir das Ende einer Welt erlebt. Wir sind nun
auf der Suche nach schlüssigen Zusammenhängen. Wir müssen verstehen können, worum es nun geht
und welchen Bedrohungen wir uns stellen müssen.
Die Welt ist heute durch Attentate und terroristische Gewalt gefährdet. Von Djakarta bis Bagdad, von Casablanca
bis Jerusalem verbreitet der Terrorismus, jedes Mal wenn er zuschlägt, Leid und Angst. Die Wunden, die er
zufügt, sind heute wohl die vordringlichste Herausforderung. Indem er weltweit die Sicherheit untergräbt,
trifft er blindlings unschuldige Zivilisten, aber auch Institutionen, die, wie die UNO, gerade jene Werte vertreten,
zu denen sich die internationale Gemeinschaft bekennen sollte.
Die Drohung des Terrors ist umso gefährlicher, als sie sich die Entregelung einer Weltordnung, die erst im
Entstehen begriffen ist, zunutze macht. Indem der Terror alle Möglichkeiten einer global gewordenen Welt einsetzte
und sich der modernsten Technologien bediente, gelang es ihm, die weltweite Beschleunigung zu seinem Vorteil zu
wenden. Auch Lücken und Brüche im internationalen System weiß er zu nutzen, denn regionale Krisen,
verwundete oder verarmte Bevölkerungen, rechtsfreie Gebiete, illegaler Handel stellen jenen Untergrund dar,
auf dem Terrorismus entsteht und gedeiht. Dazu kommt erschwerend der Umstand, dass der Terrorismus mit der Verbreitung
der Massenvernichtungswaffen seine Fähigkeit, Schaden zuzufügen, verzehnfachen kann.
In dieser unsicheren Welt erleben wir das Auftreten neuer Bestrebungen und Gegebenheiten. Das Streben nach Identität,
die Forderung nach kultureller Eigenständigkeit, der religiös bestimmte Fundamentalismus treten heute
mit Nachdruck, manchmal auch mit großer Heftigkeit auf. Auf dem Balkan und in Afrika flackern interethnische
Konflikte wieder auf. An den Krisen, die die arabische Gemeinschaft in unversöhnliche Lager trennen, ermessen
wir die Bedeutung dieser neuen Komponenten der internationalen Strategie.
Machen wir uns nichts vor: Die Welt von heute kann nicht mehr mit bloßer Waffengewalt beherrscht werden.
Die Machtverhältnisse haben sich von Grund auf gewandelt und übersteigen jetzt das wirtschaftliche, demographische,
militärische oder technologische Gewicht eines Landes. Schon Joseph Roth erklärte, dass die politischen
Grenzen keine Punkte, Striche, Linien auf einer Karte mehr seien, sondern Streit, Kreuzweg, Passion, Golgotha und
Kreuzigung.
In diesem Kontext kann jeder ermessen, wie sehr heute die Konfrontation zwischen Kulturen und Religionen zu einem
der komplexesten Risken geworden ist, denen wir ausgesetzt sind. Sie ist die eigentliche Herausforderung , die
hinter den Krisen unserer Zeit erkennbar wird, vornehmlich im Hintergrund der Irakkrise und der Krise im Nahen
Osten. In beiden Fällen stellt die Souveränität der betroffenen Völker einen der Ecksteine
der Rückkehr zu Frieden und Stabilität dar. Das gilt für den Irak, wo eine Mobilisierung der Bevölkerungen
dieses Landes gegen Gewalt und für den Wiederaufbau nur dann erhofft werden kann, wenn ihnen die Möglichkeit
eingeräumt wird, über ihr eigenes Schicksal selbst zu bestimmen. Das Gleiche gilt für den Nahen
Osten, denn in der Bestätigung eines voll verantwortlichen palästinensischen Staates, der Israel partnerschaftlich
gegenübersteht, liegt der Schlüssel eines dauerhaften Friedens.
Wer weiß besser als Europa Bescheid über die Bedeutung von Identitäten und Kulturen? Wir haben
in Frankreich Bruderkriege gekannt. Wir haben auch verbissene Identitätssuche gekannt, in dem Maße als
wir mehrmals für Elsass-Lothringen gekämpft haben. Eben diese Bedeutung kultureller, religiöser,
sprachlicher Identitäten kennen auch Sie als Nachfolger eines Reiches, dessen Hymne in elf Sprachen gesungen
wurde.
Angesichts dieser Gefahren gilt eine Feststellung, nämlich dass die Zeit drängt, und eine Überzeugung,
nämlich dass es notwendig ist zu handeln. Unsere Welt kann sich nicht mehr mit Ausflüchten zufrieden
geben; sie braucht Führung, eine neue Definition ihrer Ziele und neuen Schwung. Verlässt man sich zu
sehr auf ungewisse diplomatische Lösungen, besteht die täglich wachsende Gefahr, tiefer in den Konflikten
zu versinken, die unsere Welt von innen zerstören und ihren Zusammenhalt gefährden. Alle gemeinsam müssen
wir die Gefahren, denen unsere Welt ausgesetzt ist, erkennen, um gemeinsam die erforderlichen Gegenmaßnahmen
zu setzen.
Wie könnte dies erfolgen, wenn nicht durch die Einheit unserer internationalen Gemeinschaft, die die einzige
Antwort auf die globalisierte Welt darstellt, eine Welt, in der jeder Konflikt, der in einem Teil unserer Erde
aufflammt, augenblicklich den Rest der Welt betrifft? Die Stoßwellen, die vom anderen Ende der Welt kommen,
erschüttern unsere Gesellschaften und erinnern an die Aussage von Paul Valery, der erklärte, dass der
Widerhall der Kanonen von Verdun bis zu den Antipoden zu vernehmen war.
Diese unabdingbare Einheit hat somit all unser Tun zu leiten. Immer mit dem Bestreben, die Werte und Prinzipien
zu verteidigen, denen wir uns vorrangig verpflichtet fühlen müssen: Gerechtigkeit und Solidarität
mit den Völkern, die unter Armut oder Gewalt leiden, Dialog mit und Achtung des Anderen, denn keine unserer
Kulturen, keine unserer Religionen, keine Zivilisation darf sich über die andere erheben, schließlich
die Verteidigung des Rechts und der ethischen Grundwerte, ohne die unsere Initiativen keinerlei Akzeptanz finden
werden. Diese notwendige Einheit und Einigkeit der internationalen Gemeinschaft gilt es zu fördern, denn allein
durch sie erfährt unser Handeln Legitimität, und wird somit unser Tun wirklich effizient.
Und wie sollten wir – angesichts der Bedrohungen, die rund um uns bestehen – nicht erkennen, wie dringlich die
Wiederherstellung einer multilateralen Ordnung ist, die mit ihrer Stärke und ihrer Dynamik den Krisen der
Welt zu begegnen vermag? Im Irak, im Nahen Osten, in Afghanistan wie auch in den Ländern des Balkan wird nur
eine multilaterale Zusammenarbeit zu dauerhaften Lösungen führen, woraus neue Stabilität und Prosperität
wachsen kann. Kriege kann man allein gewinnen; den Frieden wird niemand von uns allein wieder herstellen können.
Nur der Zusammenhalt aller unserer Länder wird uns ermöglichen, den Terrorismus, die Entwicklung, ja
Auswucherung der Netze des organisierten Verbrechens anzugehen und zu besiegen; es gibt keine andere Alternative.
Diese Überzeugung meines Landes entspringt nicht einem Gedanken der Rache oder Willen zur Vergeltung, wie
so manche Beobachter wiederholt zu Unrecht feststellen,; sie entwächst der klarsichtigen Analyse unserer Welt.
Seien wir uns doch der Tatsache bewusst, dass die realen Gegebenheiten der globalisierten Gesellschaft, in der
wir leben, uns keinen Spielraum mehr geben, allein zu handeln, wollen wir nicht Misserfolge ernten oder in der
Sackgasse landen. Wenn Frankreich von einer multipolaren Welt spricht, so ist dies lediglich die Feststellung der
vorliegenden Situation: die kürzlich in Cancun geführten Verhandlungen zeigten deutlich, dass vermehrt
regionale Machtpotenziale auf den Plan treten, die entschlossen sind, ihre Interessen und Rechte zu verteidigen.
Dies ist die Realität und ausgehend von dieser haben wir die Verantwortung, zu einem in Richtung auf eine
echte Weltdemokratie fortzuschreiten, damit jeder in der internationalen Ordnung seinen Platz findet, gleichzeitig
aber auch weiterzubauen an einem unilateralen System, dem allein es gelingen wird, Kooperationsbrücken zwischen
den verschiedenen Polen der Welt zu errichten.
In diesem zerbrechlichen, mit Unsicherheit belasteten Weltgefüge kann und muss Europa seine eigenen Antworten
einbringen.
Zunächst weil Europa ein Pol der Stabilität ist. Diese Stabilität hat die Verpflichtung, Europa
über seine Grenzen hinauszutragen. Der Balkankrieg hat Europa begreifen gelehrt, dass es zur Tat schreiten
muss, um die Massaker vor seinen Türen zu unterbinden. Wir wissen, wie hautnah Österreich die Gräuel
dieses Kriegs erlebt hat, der nur wenige hundert Kilometer von Wien wütete.
Im Kosovo, aber auch in Mazedonien spielt Europa heute eine wesentliche Rolle bei der Stabilisierung einer Region,
deren Wunden noch nicht vernarbt sind. Europa setzt sich ein für Versöhnung, denn nur Versöhnung
bringt Frieden unter den Völkern und eröffnet Aussicht auf eine bessere Zukunft.
Wir tragen Verantwortung und sind dieser verpflichtet, auch weil Europa, die Wiege der Menschenrechte, der Unterdrückung
gegenüber nicht gleichgültig bleiben darf. Ich begrüße und würde den warmherzigen und
einsatzbereiten Empfang, den Sie – getreu Ihrer Tradition der Öffnung und Offenheit – den zwei Millionen Flüchtlingen
aus Osteuropa nach 1945 bereitet haben. Mit großer Bewegung denke ich an die 500.000 Juden, die damals aus
der Sowjetunion flüchteten und in Österreich ihre Freiheit wieder gefunden haben. Ich weiß auch
um den tatkräftigen Einsatz Ihres Landes für bosnische Flüchtlinge im Zuge der Belagerung von Sarajewo.
Gemeinsam haben wir mit der Europäischen Menschenrechtscharta einmal mehr zum Ausdruck gebracht, dass wir
der Wahrung der universellen Grundwerte anhängen. Gemeinsam wollen wir den Erfolg des Internationalen Strafgerichtshofs
sichern. Aber wir müssen noch weiter gehen und – vor allem in der UNO – Instrumente bauen, die der Welt den
Weg zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit ermöglichen.
Schließlich ist Europa berufen, den Dialog zwischen den Kulturen wiederherzustellen, als Brücke zwischen
mehreren Kontinenten, mehreren Religionen, mehr als einer geschichtlichen Entwicklung. Europa muss zu jenem Mediator
werden, den es braucht, um das Verständnis der Völker füreinander zu befördern. Frankreich
weiß sehr gut, worum es geht, hat die Geschichte diesem Lande doch erlaubt, enge Bande, ja fast Blutsbande
mit Afrika zu knüpfen. Zusammen mit den europäischen Anrainerstaaten des Mittelmeerraums haben wir die
Aufgabe, vermehrt Brücken zu schlagen zwischen den beiden Küsten, immer mit dem Blick darauf, was Jahrhunderte
lang unsere beiden Welten fruchtbringend bereicherte: Teilung und Austausch.
Mit der vollen Kraft seiner Überzeugung in den verschiedensten Bereichen muss Europa nunmehr vorwärts
gehen auf dem Weg zur politischen Einigung.
Zunächst gilt es, die anstehende Erweiterungsphase zum Gelingen zu bringen. Österreich hat in diesem
Prozess einen ganz wesentlichen Stellenwert. Unter der Präsidentschaft Österreichs wurden die Verhandlungen
mit jenen Ländern aufgenommen, die wir demnächst in die Union aufnehmen werden. Sie sind umgeben von
vier dieser neuen Mitglieder und setzen so eine Tradition der regionalen Zusammenarbeit fort, an der sich Europa
ein Beispiel nehmen muss. Dieser Berufung als Gesprächspartner und Mittler mit und für die osteuropäischen
Länder sind Sie bereits in der Zeit des Kalten Krieges nachgekommen. Das Österreich unter Bruno Kreisky,
dann unter Alois Mock war – wie Jacques Delors es formulierte – „ein Leuchtturm der Freiheit“ für seine Nachbarn
im Ostblock. Über ihre wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Verbindungen bestätigten und bekräftigten
Sie die Zugehörigkeit des „gekidnappten Kontinents“ zu Europa, und wir teilen Ihre Begeisterung über
das nunmehr bevorstehende endlich vereinte Europa.
In einem Europa der 25 müssen wir uns dann einfachere und effizientere Institutionen geben. Darum geht es
im Verfassungsentwurf, der vom Konvent unter dem Vorsitz von Valery Giscard d`Estaing ausgearbeitet wurde. Die
in den nächsten Tagen mit der Regierungskonferenz beginnende Diskussion hierüber wird ausschlaggebende
Bedeutung haben. Wir müssen diese beginnen im Geiste des gegenseitigen Vertrauens und der Verantwortung füreinander,
wenn wir das Gleichgewicht erhalten wollen, zu dem die Arbeiten des Konvents gefunden haben. Ich weiß um
Ihre Vorbehalte, ich kenne Ihre Zweifel, und kein Land wüsste besser Bescheid um die prinzipiellen Anliegen,
die Österreich so stark am Herzen liegen, als mein Land, dem es oblag, die schwierigen Verhandlungen zum Vertrag
von Nizza zu führen. Ich bin aber überzeugt, dass uns Einigung gelingt bezüglich der Notwendigkeit,
unseren europäischen Institutionen jene Transparenz und Flexibilität zu verleihen, die erforderlich sind,
damit unsere Bürger sie begreifen, anerkennen und akzeptieren. Keinen Platz gibt es in der Europäischen
Union für Opposition zwischen „großen“ und „kleinen“ Ländern. Sie selbst sind seit 1995 einen Weg
gegangen, der beweist, dass jeder einzelne Kraft seiner Erfahrung und Identität berufen ist, Europa voranzubringen.
Somit verbleibe ich in meiner Überzeugung, dass wir gemeinsam den Weg finden werden zu einem Abkommen, das
die Europäische Union mit den erforderlichen starken, haltbaren und demokratischen Institutionen ausstattet.
Bekräftigen wir letztendlich unsere Präsenz auf der internationalen Bühne mit Hinblick auf zwei
vorrangige Ziele.
Zunächst durch eine echte europäische Außenpolitik. Dies ganz im Sinne des Verfassungsentwurfs,
der insbesondere die Ernennung eines – dem Parlament sowie der Kommission gegenüber verantwortlichen – Außenministers
vorsieht. Dies ist neu, entspricht aber einer dreifachen Notwendigkeit: Erleichterung der Beziehungen mit unseren
Partnern in der internationalen Gemeinschaft, Verbesserung der Transparenz unserer Außenpolitik, erhöhte
Kohärenz von Auftreten und Maßnahmen der Europäischen Union in der Welt.
Weiters gilt es, die Entwicklung einer echten europäischen Verteidigungspolitik zu fördern. Wir kennen
die spezifische Haltung Österreichs in dieser Sache und werden sie selbstverständlich respektieren. Jedoch
sehen wir tagtäglich, dass die zunehmende Zahl der regionalen Krisen ein stärkeres Engagement seitens
unserer Union erfordert. Nach seiner Präsenz in Afghanistan und im Balkan mit unseren amerikanischen Freunden
hat Europa mit seiner eigenständigen Militäroperation in Zentralafrika, in der Provinz Ituri, einen entscheidenden
Schritt gesetzt. Wir müssen uns in die Lage versetzen, gemeinsam zu handeln, um mit dieser Kraft den Anforderungen
der Welt von heute zu begegnen. Wenn Europa seine Kräfte bündelt, wird es Krisen bewältigen können.
Wenn Europa seine zivilen Kräfte mobilisiert, wird es tatkräftig wirken können an der Prävention
von Konflikten und der Aufrechterhaltung des Friedens. Dieses zielorientierte Bestreben möchten wir mit allen
Staaten teilen: die seitens Deutschland, Belgien, Luxemburg und Frankreich im letzten Frühjahr unterbreiteten
Vorschläge stehen allen offen; mit dem Vereinigten Königreich, das seit dem Gipfel von Saint-Malo eine
wesentliche Rolle in diesem verpflichtenden Unterfangen übernommen hat, wollen wir dem Europa der Verteidigung
einen entscheidenden Impuls geben. Unsere kürzlichen Gespräche diesbezüglich bestätigen unser
gemeinsames Wollen.
Europa muss aber auch zusammen mit der internationalen Gemeinschaft der Herausforderung begegnen, die Frieden heißt.
In den transatlantischen Beziehungen sucht Europa einen zuverlässigen Partner, der seiner Verantwortung und
den daraus erwachsenden Aufgaben nachkommt. Ein Europa, das mehr Verantwortung übernimmt, kann in Zukunft
seinen Beitrag leisten zur Bewältigung der Risiken eines Einsatzes in der Welt. Zwischen Europa und den Vereinigten
Staaten kann es Divergenzen, Missverständnisse geben. Daran ist nichts verwunderlich: Unsere gemeinsame Geschichte
entwickelte sich langsam hin auf oft unterschiedliche politische, wirtschaftliche und soziale Sachlagen; unsere
Weltanschauungen decken sich auch nicht immer. Ist das beunruhigend? Ich denke nicht: Jenseits aller Unterschiedlichkeit
treffen wir uns in ein und derselben Wertegemeinschaft mit dem Anliegen der Verteidigung der Prinzipien der Demokratie
und der Menschenrechte. Und genau darin liegt das grundlegend Verbindende über alle Unterschiedlichkeit hinaus.
Mit den anderen großen Polen – Asien, Lateinamerika, Afrika – möchte Europa echte Kooperationsschienen
errichten durch die Beibringung europäischen Know-hows, europäischer Mittel und vor allem dadurch, dass
wir mit Aufmerksamkeit hören. Wir müssen den in der ganzen Welt Platz greifenden dynamischen Prozess
regionaler Zusammenschlüsse fördern, denn er bewirkt Stabilität und Demokratisierung. Auch regionale
Organisationen sind legitimierte Verantwortungsträger mit dem Auftrag, regionale Konflikte zu lösen.
Augenfällig wurde dies für uns durch den Beitrag der ECOWAS-Staaten bei der Suche nach einer politischen
Lösung in der Elfenbeinküste und vor einigen Wochen zur Befriedung Liberias.
Im multilateralen Gebäude muss sich Europa schließlich einsetzen für die Stärkung und die
Erneuerung der Institutionen, damit die neuen Anforderungen in der Welt gemeistert werden können. Haben wir
nicht im Verlauf der 50 Jahre unseres politischen Bestehens gelernt, dass Konzertierung und Dialog uns am besten
zu effizienten und für alle akzeptierbaren Lösungen führt? Heute entgleiten immer mehr Bereiche
der alleinigen Kontrolle durch den Staat – man denke an Umweltfragen, Probleme in Verbindung mit Wirtschaftswachstum
und Sicherheit. Arbeiten wir doch Hand in Hand und denken wir gemeinsam nach über Reformen, die wir insbesondere
im Rahmen der Vereinten Nationen fördern könnten, wie etwa die erweiterte Zusammensetzung des Sicherheitsrates,
die Einrichtung neuer Organe zur Förderung einer echten Steuerung der Weltwirtschaft bis hin zu einer authentischen
Besinnung zu Gunsten der nachhaltigen Entwicklung, zur Stärkung der der internationalen Gemeinschaft zur Verfügung
stehenden Instrumente zur Wahrung und Verteidigung der Menschenrechte, oder auch zum Kampf gegen die Verbreitung
von Massenvernichtungswaffen.
Frankreich und Österreich sind Erben dieses alten Europa, dessen Geschichte durchwirkt ist mit Streitfällen
und Entzweiung, aber sie leben von Neubeginn und Versöhnung.
Wir wollen heute unsere Schritte vorwärts lenken und zugehen auf einen neuen Horizont – zunächst gemeinsam
bauen an dieser Union, in der sich die europäische Familie heute endlich vereint zusammen findet. Diese wieder
gefundene Einheit eröffnet uns eine historische Chance, gleichermaßen für unsere Generation eine
Aufgabe: uns virulent einzusetzen für die Werte, die dem Projekt Europa zugrunde liegen, damit sie neu lebendig
werden und wir sie so in das Herz einer neuen Weltordnung tragen.
Österreich und Frankreich haben die Kraft der Erfahrung und wissen, dass sie einander ergänzen, somit
tragen unsere Länder eine besondere Verantwortung in der Umsetzung eben dieses gemeinsamen Ziels. Das Erfolgspotential
ist beiden Ländern gegeben: Hellhörigkeit für laufende Veränderungen, die Anpassung und Reaktion
erfordern; unser gemeinsamer Ruf nach Gerechtigkeit zur Linderung der Leiden einer schmerzgeprüften Welt;
unser unabdingbarer Wille zum Dialog. Nehmen wir diese Herausforderung an: Unsere Geschichte ist so reich, wir
sind ihr verpflichtet.
Dominique Galouzeau de Villepin, der die Ecole nationale d´administration absolvierte, trat 1980 in die Abteilung
für afrikanische Angelegenheiten im französischen Außenministerium ein. Nach Aufenthalten in Washington
und Neu Delhi avancierte er zum Generalsekretär des Präsidialamtes (1995 bis 2002). Am 17. Juni 2002
wurde er schließlich zum Minister für auswärtige Angelegenheiten ernannt. |