6. European Health Forum Gastein: Viele Pillen, langes Leben?  

erstellt am
07. 10. 03

Forschung und Entwicklung als oberste Priorität für die Politik
Gastein (sbg.at) - „Forschung und Entwicklung sollten dem Staat die obersten Anliegen sein“, meinte Jeff Sturchio, Vizepräsident des Pharma-Riesen Merck und Vortragender beim 6. European Health Forum Gastein. „Wer heute die Entwicklung neuer Medikamente unterstützt, nimmt entscheidenden Einfluss auf die Zukunft von Europas Gesundheitssystemen!“ Neben dem positiven Einfluss auf Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum führten Investitionen dazu, dass der Zugang zu adäquaten Therapien weiter verbessert und auf den Einzelnen abgestimmte Behandlungen ermöglicht würden. Ein großes Problem ist für Sturchio nicht nur die Entwicklung, sondern auch die Verteilung von Medikamenten: „Es gibt viele hervorragende Produkte, aber sie sind nicht in ganz Europa erhältlich. In jedem Land sind Besteuerung, Rückerstattungsregelungen und Kostendämmungs-Maßnahmen verschieden; oft kommen die neuen Erzeugnisse gar nicht auf den Markt oder sind nur begrenzt erschwinglich für die Patienten.“ Menschen, die etwa an Arthritis leiden, sei mancherorts eine Langzeit-Therapie von der Krankenkasse verwehrt worden, um das Gesundheitsbudget nicht zu sprengen.

Mit der Natur sparen
Dass eine teure Langzeit-Therapie mit Medikamenten nicht immer notwendig ist, beweist der Gasteiner Heilstollen in Böckstein: Eine Studie der Universität Maastricht bestätigt der Therapie im Heilstollen ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der Behandlung von Morbus Bechterew, einer rheumatischen Krankheit, die die Wirbelsäule steif werden lässt. „Genauso können wir im Heilstollen die Beschwerden von Arthrose und Rheuma bei 80 bis 90 Prozent der Patienten deutlich lindern“, sagt der medizinische Leiter des Gasteiner Heilstollens, Prof. Dr. Albrecht Falkenbach.

Die Maastrichter Studie wies nach, dass sechs Monate nach der Kur der Verbrauch von „Non steroid antirheumatica“ (NSAR) bei den Heilstollen-Patienten um 21 Prozent geringer war als bei der Kontrollgruppe. Die dreiwöchige Therapie im Heilstollen kostet etwa 1800 Euro; die Krankheit mit den neu zugelassenen TNFalpha-Blockern zu behandeln, würde pro Jahr mindestens 15.000 Euro kosten.

Viele Pillen, langes Leben
Weniger neue Wirkstoffe am Markt heißt weniger Jahre leben – zumindest wenn es nach einer Langzeit-Studie von Frank R. Lichtenberg geht, die vom NBER (National Bureau of Economic Research, England) in Auftrag gegeben wurde und vor kurzem erschienen ist.

Die von 1982 bis 2001 durchgeführte Studie untersuchte die Auswirkungen, die neue Produkte auf die Lebenserwartung haben: Insgesamt hat sich die Lebenserwartung in den 52 untersuchten Ländern zwischen 1986 und 2000 um durchschnittlich zwei Jahre erhöht. Wie Lichtenberg meint, sei diese Verbesserung zu einem Anteil von 40 Prozent neuen Pharma-Produkten zuzuschreiben. Daraus schließt Lichtenberg, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung durch neue Arzneien um knapp drei Wochen steigert. In 14 Jahren wären dies 0,8 Jahre oder knapp 10 Monate. Damit tritt Lichtenberg einer unter Gesundheitsökonomen vertretenen Auffassung entgegen, dass eine hohe Lebenserwartung nur auf Verbesserungen in der Bildung und Aufklärung zurückzuführen sei, sowie auf gute Ernährung und nicht zuletzt auf ein höheres Einkommen. Ein Mehr an Arzneien habe dagegen in entwickelten Ländern keinen Einfluss auf die Lebenserwartung.

Neue Waren als Herzstück des ökonomischen Fortschritts
Lichtenberg zitiert eine in den USA durchgeführte Studie, die folgende Behandlungen fokussierte: Herzinfarkt, Brustkrebs, Depression, untergewichtige Geburten („Frühchen“) und grauen Star. Dabei wurden erhebliche Fortschritte in der Therapie festgestellt, wenn neue Wirkstoffe erprobt wurden. Fazit: Forschung bringt Leben und Lebensqualität. Sollte es nach wie vor ein Anliegen der Politik sein, dass die Menschen mehr Jahre bei guter Gesundheit, längerer Arbeitsfähigkeit und kürzeren Krankenständen erleben, so dürfe laut Lichtenberg die Rolle der Pharma-Industrie nicht geschwächt und die Forschung nicht als Stiefkind im Gesundheitssektor gehandelt werden.

Kleiner Markt, schlechtere Versorgung
Da auch im europäischen Binnenmarkt Gesundheit weitgehend Sache der einzelnen Staaten ist, verhindert das zusätzlich, dass die neuesten Arzneimittel schnell und für alle auf den Markt kommen. Eine im Juli 2003 beim National Bureau of Economic Research erschienene Studie besagt: Je größer ein Markt und je höher das Pro-Kopf-Einkommen eines Landes sind, desto mehr und desto schneller sind neue pharmazeutische Produkte erhältlich. Ein Forschungsteam hat untersucht, wo und wie schnell 85 neue Pharma-Erzeugnissen auf 25 Märkten positioniert wurden, die zwischen 1994 und 1998 zugelassen wurden: Die meisten Produkte kamen in den USA (73) mit nur durchschnittlich vier Monaten Verzögerung ins Kaufregal, gefolgt von Deutschland (66 Produkte, neun Monate) und Großbritannien (64 Produkte, sieben Monate). Ganz unten im EU-Durchschnitt lag das ökonomisch schwächere Portugal (26 Produkte, 22 Monate), das sogar von Ländern mit geringerem Pro-Kopf-Einkommen wie Polen oder Tschechien (beide 31 Produkte, 21 Monate) übertroffen wurde.
     
zurück