Wien - Gus Van Sants Elephant, eine Art Bowling for Columbine ohne Besserwisserei,
ist eine der eindringlichsten Darstellungen von schulischer Gewalt seit Jahren und gleichzeitig von einer beiläufigen
Poesie wie die Fotografien von William Egglestone. Van Sant erzählt von einem ganz normalen Tag an einer amerikanischen
High School, der in einem Blutbad endet, als zwei Jungs mit Waffen ins Gebäude eindringen. Da man ahnt, was
passieren wird, laden sich die Bilder vom Schulalltag mit einer immer unerträglicheren Spannung auf. Zum einen,
weil man lange nicht weiß, wer Opfer und wer Täter sein wird, zum anderen, weil sich die Wege der Schüler
nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich überschneiden. In langen Einstellungen folgt ihnen die Kamera
über den Campus und durch die Schule, und an den Schnittpunkten sieht man dasselbe Geschehen aus verschiedenen
Perspektiven.
Diese in letzter Zeit etwas strapazierte Erzählmethode gewinnt in Elephant eine neue Kraft, indem sie das
Bild der sich kreuzenden Schicksale in jene schreckliche Banalität überführt, die im Katastrophenfall
so eine fatale Schwerkraft erlangt.
Den Titel hat Gus Van Sant übrigens einem Dokumentarfilm des Briten Alan Clarke über Nordirland entlehnt.
Er dachte, er bezöge sich auf die buddhistische Geschichte von den Blinden, die jeweils verschiedene Teile
des Elefanten zu fassen kriegen, den Rüssel, ein Ohr, ein Bein, und daraus auf die wahre Natur des Tieres
schließen zu können glauben. Erst später erfuhr Van Sant, daß Clarke seinen Film so genannt
hat, weil er von einem Problem handle, das so schwer zu übersehen sei wie ein Elefant in einem Wohnzimmer.
So oder so ist Elephant ein filmischer Schock.
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Ferdinand Leblanc – Über die Produktion
Von Mitgefühl geprägtes Interesse für junge Menschen kennzeichnet Gus Van Sants Arbeiten
seine ganze bemerkenswerte Karriere hindurch. In so unterschiedlichen Filmen wie My Own Private Idaho, To Die For
und Good Will Hunting porträtierte Van Sant Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsenwerden und ihre noch
nicht fest umrissenen Identitäten. Mit Elephant stellt sich Van Sant nun der Herausforderung, die aktuelle
Realität einer High-School darzustellen, eine Realität, die sich in den vergangenen Jahren durch Schießereien
an Schulen verändert hat. Zwischen 1997 und 1999 waren amerikanische Schulen achtmal Schauplatz tödlicher
Amokläufe von Schülern. Van Sant kam der Gedanke, das Thema in einem Film zu verarbeiten, „um sich die
Sache genauer anzuschauen“, wie er es formuliert. “Es gab so viele Schießereien an amerikanischen Schulen
wie noch nie. Ich wollte einen Film machen, der zu vermitteln versucht, in welcher Atmosphäre die Kids damals
zur Schule gingen.” Er besprach seine Ideen mit der Schauspielerin und Filmemacherin Diane Keaton und dem Drehbuchautor
und Produzenten Bill Robinson, denen die Produktionsfirma Blue Relief gehört. Dazu Robinson: “Diane und ich
kennen Gus seit einigen Jahren und wir wollten schon immer mit ihm arbeiten. Natürlich sind wir Fans seiner
Filme, besonders der provokanten wie Drugstore Cowboy und My Own Private Idaho. Wir dachten, wenn er eine künstlerische
Vision hat und einen Film über Teenager und Gewalt an Schulen machen will, dann möchten wir ihn dabei
unterstützen. Wir wußten, es könnte eine starke und eindrucksvolle Geschichte werden, wenn ein
furchtloser Regisseur wie Gus sie erzählt. Und wir sahen in HBO die perfekte Heimat für Gus, wo er seine
Vision frei verwirklichen konnte.” Und Keaton: “Gus versteht junge Menschen intuitiv. Er ist der perfekte Künstler
für einen Film über dieses Thema. Ich weiß noch, wie ich einmal zu Bill sagte, jemand sollte das
Thema der Gewalt an Schulen einmal aus einem anderen Blickwinkel betrachten.”
Elephant nimmt uns mit in die Welt einer Vorstadt High-School, schickt uns durch die Gänge, in den Schulhof
und die Klassenzimmer, die Bibliothek und die Cafeteria, das Verwaltungsbüro und die Umkleideräume. Wir
begleiten im Lauf des Tages einige Schülerinnen und Schüler und erleben zuweilen dieselben Momente und
Begegnungen aus den Blickwinkeln der verschiedenen Protagonisten: John (John Robinson); Eli (Elias Mc Connell),
ein Fotograf; der Footballspieler Nate (Nathan Tyson) und seine Freundin Carrie (Carrie Finklea); Michelle (Kristen
Hicks); die alten Freundinnen Brittany, Jordan und Nicole (Brittany Mountain, Jordan Taylor, Nicole George). Und
dann sind da noch die zwei Jungen, die für diesen Schultag ihren eigenen Plan haben, Alex (Alex Frost) und
Eric (Eric Deulen). Sie alle sind Teil der High-School Landschaft, die Elephant zeigt.
Ein Werk diente Van Sant als Prüfstein für seinen Film über das brisante Thema der Gewalt an Schulen:
ein vielbewunderter BBC Streifen des mittlerweile verstorbenen britischen Regisseurs Alan Clarke aus dem Jahr 1989,
der ebenfalls den Titel Elephant trägt. Clarkes Elephant reduziert das Erzählerische auf ein Minimum,
bis der Konfessionskrieg in Nordirland als gnadenloser anonymer Marsch von Morden erscheint. Clarke benannte seinen
Film nach dem beißenden Sprichwort, demzufolge manche Probleme so leicht zu ignorieren sind wie ein Elefant
im Wohnzimmer. Van Sant beschloß, den Titel aufzugreifen und bemerkte dazu: “Dieser Film dreht sich um das
Leben von Jugendlichen, die in einer anderen, aber ebenfalls extrem gewalttätigen Zeit leben.” Ursprünglich
hatte Van Sant geglaubt, Clarkes Titel beziehe sich auf die alte Parabel von den Blinden und dem Elefanten. In
einer Version, die in buddhistischen Schriften aus dem 2. Jahrhundert vor Christus vorkommt, untersuchen einige
blinde Männer verschiedene Teile eines Elefanten – ein Ohr, ein Bein, den Schwanz, den Rüssel, einen
Stoßzahn, usw.. Jeder der Blinden ist felsenfest überzeugt, daß er aufgrund des einen Teils, den
er betastet hat, die wahre Natur des Tieres begriffen hat – daß der Elefant aussieht wie ein Fächer,
ein Baum, ein Seil, eine Schlange, ein Speer. Doch keiner sieht das Ganze. Van Sant schien die Parabel auf das
Thema der Schul-Schießereien zu passen. “Ich hatte angenommen, Alan Clarke habe seinen Film Elephant genannt,
weil er von einem Problem handelte, das sich nur schwer festmachen ließ, weil man es aus verschiedenen Blickwinkeln
betrachten konnte”, erzählt er. “Ich blieb lange in diesem Glauben, bis ich ein Zitat las, in dem Clark erklärte,
er gehe um den Elefanten im Wohnzimmer. Aber als wir den Film drehten, ging es mehr um die Blinden.” Elephant hat
nicht den Anspruch, das Rätsel der Gewalt an Schulen zu lösen. “Wir wollten nichts erklären”, bestätigt
Van Sant: “Sobald man eine Sache erklärt, fallen fünf andere Möglichkeiten dadurch unter den Tisch,
daß man es auf diese eine Art erklärt hat. Außerdem stellte sich auch noch die Frage, wie man
für etwas eine Erklärung findet, für das es nicht unbedingt eine gibt.”
Produzent Dany Wolf beschreibt es so: “Elephant beleuchtet ein Ereignis aus mehreren Perspektiven, jedoch nicht
wie Rashomon, wo Ursache und Wirkung vor Augen geführt werden. Wir zeigen nicht Ursache und Wirkung. Was ein
gewisses Risiko in sich birgt, weil die Leute bei einem solchen Thema unmißverständlich gezeigt bekommen
wollen, was die Ursache ist und was die verheerenden Folgen sind.”
Elephant wurde in Portland, Oregon gedreht, wo Van Sant lebt. Beim Anlaufen der Vorproduktionsphase hatte Van Sant
den von der Kritik gelobten Film Gerry nach einem minimalen Skript und in enger Zusammenarbeit mit den Schauspielern
Matt Damon und Casey Affleck und einem kleinen Team, zu dem auch Produzent Wolf, Kameramann Harris Savides und
Sound Designer Leslie Shatz gehörten, abgedreht. Dazu Wolf: “Wir hatten mit Gerry eine so tolle Erfahrung
gemacht, daß Gus sich entschloß, wieder so zu arbeiten, mit lockerem Drehbuch und viel Improvisation.”
Begonnen wurde mit dem Casting und man beschloß, die Rollen der Schülerinnen und Schüler im Film,
inklusive Statisten, mit echten High-School Studenten zu besetzen. Ein offenes Casting in Portland lockte rund
3.000 Teenager an. Wolf erinnert sich: “Der Casting Director vor Ort, Danny Stoltz, leistete großartige Arbeit
mit Flyern und Radiospots – und weil es Gus war, griffen es die Lokalsender auf und es wurde zu diesem großen
Ding. Es war phänomenal. Gus ging herum, lernte die Kids kennen und redete mit ihnen.” Schließlich wurden
die Bewerber zu kleineren Gruppen ausgesiebt. Die preisgekrönte Casting Agentin Mali Finn traf sich mit den
Schülerinnen und Schülern und unterhielt sich mit ihnen über ihr Leben. Das Thema der Schießereien
an Schulen wurde sehr direkt angesprochen, berichtet Van Sant. “Mali ist großartig darin, Menschen dazu zu
bringen, daß sie von sich selbst erzählen. Wir stellten Fragen wie «Fühlst du dich in der
Schule sicher? Kommt so was vor? Was passiert in deinem Leben?»”, erinnert er sich. “Diesen Kids sind die
Schul-Schießereien nur allzu bewußt, weil sie selbst in die Schule gehen. Deshalb gibt es natürlich
Ängste, und sie haben auch ihre Meinung dazu. Und sie sind gescheit. Manche von ihnen haben es sehr schwer
in der Schule, es ist die Hölle für sie. Manchmal verwenden sie dieses Wort auch, «Hölle».
Andere finden die Schule toll. Ich glaube, dieselbe Diskrepanz gab es auch schon, als ich auf der High-School war.”
Die Schüler wurden ermutigt, ihre Rollen ausgehend von ihren eigenen Lebensumständen zu gestalten, ihre
eigenen Geschichten und Erfahrungen einzubringen. Es gab keine geschriebenen Dialoge, und im wesentlichen improvisierten
die Schüler ihre Texte, wobei Van Sant ihnen bisweilen vorschlug, eine Geschichten oder Details einzubauen,
die sie ihm bereits erzählt hatten. “Die jungen Leute waren am Entstehungsprozeß ihrer Charaktere beteiligt.
Die meisten Kids spielten im weitesten Sinn Rollen, die sie auch im wirklichen Leben spielen”, so Van Sant. Die
Ausnahme dieser Regel sind Alex Frost und Eric Deulen, die als die beiden Jungen gecastet wurden, die dem Tag ein
jähes Ende bereiten. In der ganzen Besetzungsliste gibt es nur drei Berufsschauspieler, alle in Erwachsenenrollen:
Timothy Bottoms als Vater eines Schülers, Matt Malloy als Schuldirektor Mr. Luce und Ellis E. Williams als
Chef der Gay Straight Alliance, einer Organisation gegen die Diskriminierung von Homosexuellen. Oscarpreisträgerin
Keaton begrüßt Van Sants Entscheidung, die in Gerry erprobten Improvisationstechniken fortzusetzen.
“Ich finde diese Vorgangsweise faszinierend. Es ist erstaunlich, was herauskommen kann, wenn die Darsteller von
jemandem geführt werden, der soviel Talent, Geschick und Einblick hat wie Gus”, lautet ihr Kommentar. “Außerdem
hat Gus einen ganz speziellen Blick für Talente. Die Kids vertrauten ihm und sie brachten es einfach – und
zwar völlig unverkrampft.”
Die Schöpfer von Elephant waren entschlossen, den Film in einer echten High-School zu drehen. Produzent Wolf
erwirkte von der Schulbehörde die Erlaubnis, eine kürzlich aufgelassene High-School im Nordosten von
Portland zu benutzen. Die Möbel und Einrichtungen der Schule waren im großen und ganzen noch intakt.
“Nach ziemlich kurzer Zeit sah alles wieder wie eine ganz normale Schule aus. Wir wollten, daß alles so echt
wie möglich aussieht”, erklärt Wolf.
Elephant wurde in 20 Tagen im November 2002 gedreht. Der Film ist die dritte Zusammenarbeit von Van Sant und dem
renommierten Kameramann Harris Savides, der für Van Sant sowohl Finding Forrester als auch Gerry fotografiert
hatte, der ihm 2002 eine Nominierung für den Independent Spirit Award einbrachte. Elephant wurde in 35mm gedreht
und besticht durch die Schönheit und Details seiner Bilder: Blicke auf Landschaften und Himmel; lange Kamerafahrten,
die die Schüler unaufgeregt begleiten; die geduldige Beobachtung eines menschlichen Gesichts. Aber er ist
auch das unmittelbare und authentische Porträt eines bestimmten Umfeld und der darin lebenden Menschen.
Bei der visuellen Ästhetik inspirierten sich Van Sant und Savides an den Dokumentarfilmen Frederick Wisemans
(Domenstic Violence, The Store, High School) und Fotografien William Egglestons. Dazu Van Sant: “Wiseman filmt
immer an Orten, wo es relativ schwierig ist, ob in einem Kaufhaus oder einer High School. Er versucht die Situation,
die Menschen und den Ort wahrhaftig zu porträtieren. Dasselbe gilt für Eggleston: Er macht Aufnahmen
einer bestimmten Umgebung, aber es geht immer auch um Charaktere und Menschen. Bei Wiseman wie bei Eggleston weiß
man nie genau, wo sie sind, aber wo auch immer das sein mag, es sieht erstaunlich aus. Deshalb wollten wir Sachen,
die gut aussehen, aber nicht künstlich, zu kopflastig oder zu raffiniert sind. Wir haben viel mit natürlichem
Licht, das durch die Fenster fiel oder sonst da war, gearbeitet – und versucht, die Schönheit darin zu entdecken.
Sie entschieden sich, den Film im Bildformat 1:1,33 zu schießen statt im breiterem 1:1,85 der meisten zeitgenössischen
Filme. Dieses Format war bis Mitte der 1950er Jahre Standard gewesen, Van Sant hatte es in seinen frühen 16mm
Filmen verwendet und wollte es gerne wieder tun. “Ich mag dieses Format einfach. Und wir hatten vor, in Situationen
zu filmen, die in 1:1,33 gut kommen würden, Gänge zum Beispiel”, erklärt er. Außerdem wurden
in amerikanischen Schulen jahrzehntelang 16mm Filme im Format 1:1,33 gezeigt, bis Videos sie ablösten.
Das Sound Design von Leslie Shatz ist ebenso subtil und zurückhaltend wie der Film. Musik wird sparsam eingesetzt.
Ein paar Passagen sind mit Beethovens “Für Elise” und den Klaviersonaten N° 14 und N° 2 unterlegt.
Wie so vieles in Elephant kam auch die Musik von einem Schüler, in diesem Fall von Alex Frost. Van Sant erinnert
sich: “Alex stand neben einem Klavier und begann zu spielen. Für den nächsten Tag war die Szene in seinem
Schlafzimmer geplant, deshalb meinte ich: «Da sollten wir wohl ein Klavier reinstellen.» Gesagt, getan,
und nachdem wir eine Szene gedreht hatten, in der Alex spielt, bot es sich an, die Musik auch an anderen Stellen
des Films zu verwenden.”
Ein Großteil des Sound Designs besteht aus musique concrète, einer Form der elektronischen Musik,
die Ende der 1940er Jahre entwickelt wurde und anstelle konventioneller Instrumente natürliche Geräusche
verwendet. Dazu Wolf: “Es ist kein traditionelles Sound Design, wo alles mit Geräuschen und Musik ausgekleidet
ist. Wie im Film selbst geht es auch hier darum, alles Künstliche abzustreifen; den Leuten wird nicht mit
Musik und Ton vorgegeben, wie sie empfinden oder was sie denken sollen.” Wolf kommt noch auf Van Sants Understatement
beim Schneiden des Films zu sprechen. “Gus arbeitet nicht viel mit schnellen Schnitten. Er baut nicht auf die Technik,
um dem Zuschauer zu sagen, wo er hinschauen und was er fühlen soll. Gus vertraut genug auf sich, daß
er bei einer Einstellung verweilen kann und nicht jede Stille mit einem Geräusch füllen muß. Der
Film besitzt sehr realistische Aspekte, aber manchmal ist er auch sehr ätherisch, wie aus einer anderen Welt.
Ich glaube, diese Kombination hat auf den Zuschauer eine irgendwie organischere Wirkung.”
Kaum jemand wird nach Elephant ungerührt den Kinosaal verlassen. Diane Keaton beschreibt es so: “Der Film
bringt mich dazu nachzudenken, welche Verantwortung ich als Erwachsene habe, mich um Verständnis dafür
zu bemühen, was in jungen Menschen vorgeht. Das Auffallendste ist die Reinheit des Films. Gus hat nichts anderes
versucht als darzustellen, wie junge Menschen seiner Meinung nach die High School wahrnehmen. Man erlebt mit, wie
es für sie ist.” |