Temelín, Beneš und formatlose Politiker
Ist der endgültige Schiffbruch österreichisch-tschechischer Beziehungen erreicht?
Eine Analyse von Petr Popov
Den in der Causa Temelín an Österreich zuletzt adressierten Brief von EU-Erweiterungskommissär
Günther Verheugen, welcher den Wunsch der Union äußerte, den Melker Prozeß zu einem Ende
zu bringen und damit die EU gleichzeitig aus der heiklen und ihr äußerst unangenehmen Rolle des "Mediators"
herausgenommen hat, haben viele tschechische Politiker mit Genugtuung aufgenommen. Die Reaktionen auf diesen "Etappensieg"
im Kampf um Temelín waren jedoch keineswegs euphorisch, die tschechische Seite scheint langsam begriffen
zu haben, daß es in diesem "Kampf" auch nach den Aussagen Molterels keine Sieger und Besiegte,
sondern nur Verlierer geben kann.
Der Tiefpunkt ist erreicht
Die größten Verlierer sind derzeit die gutnachbarschaftlichen österreichisch-tschechischen
Beziehungen, welche nach anfänglichen Höhenflügen und Sympathiebekundungen in den Folgejahren der
Samtenen Revolution 1989 bis 1991 nun mit der offenen oder versteckten Beitritts-Vetodrohung mündeten und
so an ihren Tiefpunkt angelangt sind.
Die barbarischen Slawen
Gewiß, die österreichsch-tschechischen Beziehungen waren noch nie einfach, gerade weil beide
Länder kulturell, ethnisch und nicht zuletzt geographisch und wirtschaftlich sehr eng verflochten waren bzw.
dies nach 1989 wieder sind. Streng genommen haben beide Völker stets - schon seit dem Mittelalter - aneinander
vorbei gelebt und sich um politische und kulturelle Vormachtstellung in der mitteleuropäischen Region gerungen,
bis dann 1918 die Tschechen die strukturelle Systemschwäche des österreichischen "Auslaufmodels
Monarchie" dazu nutzen um geschickt die bis dato "brodelnd-ruhenden" slawischnationalen Tendenzen
anzuheizen und somit die Ausrufung des ersten tschechoslowakischen Staates in den Ruinen des zerfallenen Großösterreich
zu ermöglichen. Dieser "Dolchstoß" gegen die (heute sehr veridealisierte) Monarchie spielt
auf der psychologischen, unbewußten Ebene eine nicht zu unterschätzende Rolle. Viele bekommen auch die
grausamen Bilder der Vertreibung der Sudetendeutschen, die sie noch es aus Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern
kennen oder aber auch durch den horrenden Populismus einiger neuzeitlicher österreichischer Provinzpolitiker
eingeimpft bekommen haben, nicht aus ihren Köpfen. Es ist das Bild eines "barbarischen slawischen Stammes",
wie ihn noch einige Geschichtsbücher zeichnen.
Doch auch die tschechische Seite ist nicht frei von Vorurteilen und psychologischen Barrieren. Die kommunistische
Umarbeitung der (Welt-)Geschichte zeigt noch heute ihre Wirkung. Sie kennt den Österreicher nur als Besatzer
und Unterdrücker alles Tschechischen. Dies mag vielleicht für den letzten und deshalb besonders panischen
Atemzug der Monarchie im 18. Jahrhundert und einiger nachfolgender Jahre des 19. Jahrhunderts oder die von den
Habsburgern im hussitischen Böhmen besonders eifrig betriebenene Gegenreformation gelten, doch gerade am Beispiel
der lange Zeit von tschechischer Seite bestrittenen Gleichberechtigung der tschechischen Sprache wird deutlich,
daß es stets - wenn auch kein direktes Miteinander - doch zumindest ein friedliches Nebeneinander gegeben
hat.
Deutschland als Vorbild
Die nun so heftigen österreichischen Attacken auf die gerade nach dem Zerfall der CSFR sensible tschechische
Souveränität: Grenzblockaden, Vetodrohungen, Einflußnahme über Dritte (EU), können die
Tschechen absolut nicht verstehen. Sie sehen - verstärkt durch die schwarzweißen Brillengläser
einiger politischer Trittbrettfahrer - ein reiches, im Rahmen des Marschallplanes aufgepäppeltes Nachbarland,
das gegen ein vom Kommunismus geschundenes und mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozeßen
belastetes Volk agiert. Erwarten würde man sich im Jahre 2001 zumindest eine vorsichtige Annäherung.
Eine wirkliche über politische Versprechungen hinaus gehende grenzüberschreitende Zusammenarbeit der
Regionen. Die rationale Aufarbeitung politischer (z.B. Beneš-Dekrete) und wirtschaftlicher (z.B. neue Zollämter,
Revitalisierung grenzüberschreitender Eisenbahnverbindungen) Mißstände. Wenn schon kein aktives
Werben für die Erweiterung, dann zumindest kein Schüren von Ängsten und Vorurteilen in der österreichischen
Bevölkerung. Die Bundesrepublik Deutschland wäre Österreich sicher ein gutes Vorbild. Trotz der
massiven Probleme und Ressentiments, welche aus der gemeinsamen schwierigen Geschichte der Deutschen und der Tschechen
resultieren, gelang es den deutschen und tschechischen Politikern die Altlasten aufzuarbeiten und ausgezeichnete
nachbarschaftliche aber auch zwischenmenschliche und wirtschaftliche Beziehungen wiederherzustellen. Es war vielleicht
auch das Glück in einer Zeit gewesen zu sein, in welcher nicht gleich alles als politisches Kleinkapital galt,
das sofort populistisch ausgeschlachtet werden mußte.
Die Rückkehr in die Realpolitik
Temelín ist nun ein Keil in der Qualität der österreichisch-tschechischen Beziehungen
und die Güte der weiteren Beziehungen wird eng an dieses Thema geknüpft sein. Dabei müssen beide
Seiten wieder in die Realpolitik zurückkehren. Die Tschechen wissen jetzt nach dem Rückzug der EU, daß
Temelín endgültig ein "nur" bilaterales Problem zwischen den beiden Staaten ist. Sie wissen
auch, daß das österreichische Veto zum EU-Beitritt Tschechiens von der EU nie akzeptiert worden wäre.
Temelín wird also bleiben, unabhängig davon, ob ihn die einen als "Schrottreaktor" oder die
anderen als "das sicherste AKW Europas" (Günther Verheugen in seinem Brief an die österreichische
Bundesregierung) bezeichnen. Die tschechischen Politiker sollten sich jedoch nicht däumchendrehend zurücklehnen
und die Rolle Österreichs im Integrationsprozeß Tschechiens unterschätzen. Gerade Österreich
kann die Abschlußverhandlungen unendlich in die Länge ziehen und verkomplizieren, in dem es z.B. auf
die genaue Einhaltung der europäischen Umweltstandards pocht. Es wäre auch an der Zeit das Tschechien
die Phase des Ignorierens und Aussitzens von Problemen beendet und eine Geste des guten Willens setzt. Die Abschaltung
Temelíns, wäre wohl die großzügigste Geste, doch ist dies politisch nicht mehr durchsetzbar.
Die österreichische Ausgrenzungs- und Drohgebärdenpolitik hat aus einem "gewöhnlichen"
AKW ein nationales Trotzbollwerk geschaffen. Aber vielleicht ist ein Kompromiß in der Betriebsdauer des AKW
oder der gemeinsamen Festlegung und Einhaltung von noch zu vereinbarenden Sicherheitsstandards zu erzielen. Auch
die Neubewertung der Beneš-Dekrete, wie es Václav Havel einmal vorgeschlagen hat, würde sich anbieten.
Möglichkeiten gäbe es also genug. Es gibt aber leider nicht genug Politiker, welche das nötiger
Format für so einen Schritt hätten, um ihn auch glaubwürdig erscheinen zu lassen. Weder in Prag
noch in Wien.
Der Autor ist freier Journalist in Wien und Prag |