Wie schaut die Zukunft des österreichischen Sozialsystems aus?
Mehrstündiges Expertenhearing zum Sozialbericht im Sozialausschuss
Wien (pk) - Bei der heute am Vormittag stattfindenden Sitzung des Sozialausschusses bot zunächst
der Bericht über die soziale Lage 1999 die Gelegenheit, mit von den Parteien nominierten Experten die soziale
Situation in Österreich zu debattieren. Der Sozialbericht wurde nach ausführlicher Debatte mit S-F-V-Mehrheit
zur Kenntnis genommen und gilt damit als enderledigt.
Abgeordneter Karl Öllinger (G) strich in einer Wortmeldung zur Geschäftsbehandlung heraus, dass der Bericht
zum ersten Mal keine Daten über die Arbeitsmarktpolitik enthalte, und nahm das Angebot von Minister Bartenstein
an, getrennt darüber zu debattieren. Ressortchef Bartenstein stellte überdies die Zweckmäßigkeit
einer arbeitmarktpolitischen Darstellung im Rahmen des Berichtes in Frage, zumal es sich in diesem Fall nur um
unaktuelle Daten handeln könne.
Im Rahmen des Hearings betonte Univ.-Prof. Sieglinde Rosenberger die hohe gesellschaftliche und individuelle Bedeutung
des Berichtes und sprach die Schwachstellen der Politik und den Handlungsbedarf an. Als Schwachstellen bezeichnete
sie etwa die zunehmende Ungleichheit im Bereich der Erwerbseinkommen, obgleich es mehr Jobs, aber weniger Einkommen
gebe, und die Tatsache des Nichtgreifens der Sozialtransfers in manchen Bereichen, etwa in der Arbeitslosenversicherung,
da der Umbau zu Lasten der Betroffenen erfolge. Defizite ortete sie u.a. bei der Chancengleichheit.
Dr. Reinhard Koman sprach von der fiskalischen Nachhaltigkeit der Maßnahmen, was bedeute, dass die Leistungen
eines Staates, vor allem die Sozialleistungen, durch Einnahmen gedeckt sein müssen. Auf der Basis der Rechtslage
gehe der Staat Verpflichtungen ein, die zwar nicht verbrieft seien, die aber eine effektive Staatsschuld darstellen.
Diese effektive Staatsschuld habe am Ende der Legislaturperiode 125 % des Bruttoinlandsproduktes betragen, sie
war somit mehr als doppelt so hoch wie der Maastrichtwert. Durch das Konsolidierungsprogramm der Regierung konnte
diese Staatsschuld verringert werden, sodass der Gesamtstaat nachhaltig finanziell gesichert ist. Als "Achillesferse"
des Konsolidierungsprogramms sah der Experte das Pensionssystem an, betrage doch die effektive Schuld 200 % des
Bruttoinlandsprodukts.
Ferner befasste sich Koman mit den Reformperspektiven im Pensionssystem, sah Anpassungserfordernisse gegeben und
trat für ein "gesund geschrumpftes bereinigtes Umlageverfahren" und für die Säule "Eigenvorsorge"
ein.
Dr. Martin Mayr beschränkte sich bei seinen Ausführungen auf die Pensionsversicherung, wies auf die Schwäche
des Systems hin, dass trotz eines relativ hohen Beitragssatzes in der Pensionsversicherung der Bundesbeitrag nicht
nur absolut, sondern auch relativ weiter steigen werde. Als Schwachstelle nannte er das Pensionsantrittsalter,
das seit 1970 um 3,7 Jahre von 61,3 auf 57,6 Jahre gesunken ist. Durch das höhere Pensionsabgangsalter steige
der Mehraufwand. Für ihn steht die Absicherung des hohen Leistungsniveaus des Pensionsversicherungssystems
im Vordergrund; dieses ist seiner Meinung nur zu erreichen, wenn man am Prinzip der Pflichtversicherung festhält
und wenn am Umlageverfahren nicht gerüttelt werde, denn der Umstieg vom Umlageverfahren auf ein Kapitaldeckungsverfahren
sei nicht finanzierbar. Mayr machte ferner darauf aufmerksam, dass man auch der Frage des Pensionsantrittsalters
der Frauen nicht werde ausweichen können, da der fünfjährige Vorteil der Frauen bis 2018 gelte.
Die Sozialleistungen in Österreich sind mit jenen in der EU vergleichbar, konstatierte Univ.-Prof. Dr. Emmerich
Talos und fuhr fort: Die Sozialquote zeige, dass sich Österreich als reiches Land entsprechende soziale Sicherungssysteme
leisten könne. Der vorliegende Bericht stelle nicht nur ein wichtiges Dokument dar, sondern lege auch offen,
dass in unserem gut ausgebauten System der sozialen Sicherheit auch Probleme und Handlungsbedarf bestehen. Durchleuchtet
gehören seiner Ansicht nach u.a. Maßnahmen betreffend die Vereinbarkeit von familiärer und beruflicher
Arbeit, die großen Unterschiede im Sozialleistungsniveau und Fragen der Armutsgefährdung. Möchte
man das System treffsicherer und armutsfester machen, müsse man das System um grundsichernde Elemente ergänzen,
regte der Experte an.
Die Abgeordneten stellten eine Vielzahl von Fragen an die vier Experten. Zur Sprache kamen etwa der Komplex Armut
und Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse, die künftigen Pensionsansprüche der geringfügig
Beschäftigten, die Teilzeitbeschäftigung von Frauen, etwaige Auswirkungen des Kinderbetreuungsgeldes
auf die Armut in Österreich, das Sinken der Sozialquote seit Anfang der neunziger Jahre, die Erhöhung
des Pensionsantrittsalters für öffentlich-rechtliche Dienstnehmer bzw. der Beschluss des Sozialpaketes
für diese Dienstnehmer, Steuerungsmechanismen zur Sicherung des Pensionssystems, die Eigenvorsorge und Fragen
der Behindertenpolitik.
Das sozialstaatliche Sicherungssystem in Österreich basiere im wesentlichen auf zwei Säulen, und zwar
auf der Erwerbstätigkeit und der Ehe, erläuterte Talos. Da zweiteres zunehmend in Erosion begriffen sei,
ist es erforderlich, im Bereich der Absicherung von Frauen weitere Schritte zu setzen. In Richtung der Abgeordneten
Haller merkte Talos an, dass der Wunsch nach Teilzeitarbeitsplätzen vor allem bei den Frauen stark ausgeprägt
sei. Dieser Wunsch basiere seiner Auffassung nach jedoch auf einer Unausweichlichkeit bzw. dem Zwang, Beruf und
Familie vereinbaren zu müssen. In diesem Zusammenhang sei natürlich auch die Frage der Kinderbetreuungsinfrastruktur
von großer Bedeutung.
Für mindestens genauso bedeutsam halte er jedoch die Frage der beruflichen Qualifizierung, die in Zukunft
immer wichtiger werde. Es müsse daher auch danach getrachtet werden, dass atypische Beschäftigungsformen
aufgewertet werden und nicht mit geringerer Qualifikation und schlechterer Absicherung verbunden sind. Hinsichtlich
des Kinderbetreuungsgeldes erklärte er, dass positive Effekte für Familien mit geringem Einkommen zu
erwarten sind. Schließlich wies er noch auf das Sozialstaatsvolksbegehren hin, bei dem es um eine Verbindlichkeitserklärung
für alle geht und das sich gegen keine Partei oder Regierung richte. Österreich sei - mit Ausnahme von
Großbritannien - das einzige Land in der EU, das die soziale Verantwortung des Staates nicht in der Verfassung
verankert hat, gab er zu bedenken.
Dr. Martin Mayr befasste sich mit dem Thema Eigenvorsorge im Pensionsbereich und gab zu bedenken, dass davon natürlich
die große Gruppe der Witwer und Witwerinnen betroffen wäre. Er bekenne sich ganz klar zur Aufrechterhaltung
der Pflichtversicherung; keine Gruppe soll aus dem System herausfallen. Was die geringfügig Beschäftigten
anbelangt, so habe in der letzten Zeit in legistischer Hinsicht ein Quantensprung stattgefunden, da die Möglichkeit
geschaffen wurde, sich voll am Sozialversicherungssystem zu beteiligen. |
Zur Höhe der Pensionen bei den Neuzugängen führte Mayr aus, dass diese z.B. bei den männlichen
Angestellten 22.700 S betrage und auch bei den Frauen eine Erhöhung um 3 % erfolgt sei. Zudem werde im Pensionssystem
- durch Maßnahmen wie Anrechnung der Kindererziehungszeiten etc. - versucht, die Einkommensunterschiede zwischen
Männern und Frauen zu verringern. Weiters befasste er sich mit dem öffentlichen Dienst, der gerade im
Bereich der Pensionsversicherung mit wesentlich einschneidenderen Änderungen konfrontiert sei als die ASVG-Versicherten.
Dr. Reinhard Koman kam auf die neue Abfertigungsregelung zu sprechen, die seiner Auffassung nach eine sehr konstruktive
Lösung darstelle, da eine zusätzliche kapitalgedeckte Säule geschaffen wird. In der Pensionsfrage
vertrete das IHS die Ansicht, führte er weiter aus, dass es zu einer Harmonisierung der einzelnen Systeme
kommen müsse und ein einheitliches Pensionsrecht für alle gelten soll. Grundsätzlich gehe es darum,
dass Arbeit nicht bestraft werden soll, meinte er im Zusammenhang mit dem Themenkreis vorzeitiges Pensionsantrittsalter.
Am besten wäre eine grundlegende Systemreform, regte er an, und zwar in Richtung beitragsdefiniertes Umlageverfahren.
Univ.-Prof. Dr. Sieglinde Rosenberger war der Auffassung, dass es bei Maßnahmen der sozialen Sicherheit darum
gehe, Schwächen und Verfehlungen des Marktes auszugleichen und dass daher nicht ökonomische Prinzipien
im Vordergrund stehen sollen. Bezüglich der Eigenvorsorge stehe sie auf dem Standpunkt, dass dieses Modell
- gerade in einer Zeit, in der die Einkommen zurückgehen - keine Alternative zur korrektiven Solidarität
sei. Die Höhe der Pensionen bei den Neuzugängen sei für sie ein Parameter für das massive Ungleichgewicht
zwischen Männern und Frauen, da auch das faktische Antrittsalter nur wenige Monate auseinanderliege. Die Politik
müsse auf die Bedürfnisse der weiblichen Lebensumstände Rücksicht nehmen und bestimmten Entwicklungen
gegensteuern. Als Beispiel schlug Rosenberger vor, Teilzeitansprüche für Eltern einzuführen. Das
Kinderbetreuungsgeld werde ihrer Meinung dazu führen, dass Frauen länger aus ihren Berufen aussteigen
und weniger Beiträge leisten können; dies habe stärkere Armutskonsequenzen zur Folge und stelle
eine Hypothek für die Zukunft dar.
Bundesminister Herbert Haupt informierte die Abgeordneten darüber, dass sich die Evaluierung der Behindertenmilliarde
im Vorbereitungsstadium befinde. Für ihn sei das Prinzip der Nachhaltigkeit von großer Bedeutung, denn
es sollten nicht nur Maßnahmen für behinderte Menschen in Vorwahlzeiten angekündigt, sondern auch
kontinuierlich umgesetzt werden. Sodann kam er auf das Sozialstaatsvolksbegehren zu sprechen, das die verfassungsmäßige
Verankerung der sozialen Verantwortung des Staates zum Ziel hat. Dabei dürfe man jedoch nicht vergessen, dass
bei den anderen EU-Staaten die zweite und vor allem die dritte Säule viel stärker ausgeprägt sei.
Er wünschte sich, dass eine faire Diskussion über die aktuellen Probleme und die Weiterentwicklung des
Sozialsystems geführt und kein falsches Vertrauen bei der Bevölkerung erweckt wird. Denn das Pensionssystem
müsse im internationalen Gleichklang angepasst werden, unabhängig davon, ob es eine verfassungsmäßige
Verankerung gibt oder nicht. Überdies verteidigte Haupt die Einführung des Kinderbetreuungsgeldes, das
nicht nur eine finanzielle Besserstellung bringe, sondern auch von zusätzlichen Qualifizierungsmaßnahmen
und Teilzeitarbeitsmöglichkeiten begleitet wird. |