Pressegespräch zum „industrie aktuell“ – Industrieforum 4/2002
Wien - Konjunkturprognosen sind eine wichtige Orientierungshilfe. Für Produktions- und Investitionspläne
von Unternehmen ebenso wie für die Wirtschaftspolitik. Liegen die Konjunkturforscher in ihren Einschätzungen
falsch, hat dies gravierende Auswirkungen auf die Budgets der Unternehmen als auch der öffentlichen Hand.
Als im März 2001 die Konjunkturforschungsinstitute ihre ersten Prognosen für 2002 abgegeben haben, stand
in der Einschätzung des realen BIP-Wachstums eine Zwei vor dem Komma, in der zur Jahreswende 2001/2002 abgegebenen
Prognose eine Eins. Zum Ende des Jahres 2002 zeigt sich aber: Die Wachstumsrate des laufenden Jahres wird eine
Null vor dem Komma ausweisen.
Auch die Prognosen für 2003 – jedenfalls für das erste Halbjahr des kommenden Jahres – mussten bereits
deutlich reduziert werden.
Univ. Prof. Dr. Werner Clement, Leiter des Industriewissenschaftlichen Instituts und Mitherausgeber der Fachzeitschrift
„industrie aktuell“: „Die Jahre 2001 und 2002 waren aus Sicht der Wirtschaftsforschung gekennzeichnet durch ein
langes, eigentlich zu langes Festhalten an recht optimistischen Konjunkturprognosen. Zwar mussten die BIP-Projektionen
jedes Halbjahr nach unten korrigiert werden, dennoch wurde – insbesondere in Deutschland und Österreich –
die Hoffnung auf einen Aufschwung im jeweils nächsten Halbjahr aufrecht erhalten. Kritische Beobachter fragen
sich mitunter, ob hier die vollständige Unabhängigkeit der Wirtschaftsforscher von politischen Einflüssen
tatsächlich immer gewährleistet ist. Jedenfalls läge es im eigenen Interesse der Politiker, die
Wirtschaftsforscher in keiner Form zu beeinflussen, damit die essentielle Orientierung ‚Konjunkturprognose‘ nicht
diskriminiert wird. Es sollte unmöglich sein, eine Konjunkturphase durch politischen Willen günstiger
oder ungünstiger zu färben. Die in letzter Zeit zu Recht kritisierte kreative Buchführung sollte
nicht auch zu einer kreativen Konjunkturdiagnose führen dürfen. Zu spät akzeptierte Konjunkturdiagnosen
führen zwangsläufig auch zu verspätetem konjunkturpolitischem Handeln.“
Univ. Doz. Dr. Andreas Wörgötter, Mitarbeiter der OECD, Paris, verweist darauf, dass auch Prognosefehler
ihren Informationsgehalt haben: „Prognosefehler machen darauf aufmerksam, dass sich im Ablauf der Wirtschaft etwas
geändert hat. Das kann von unerwarteten Schocks bis hin zu Verhaltensänderungen reichen. Für Unternehmer
wie Wirtschaftspolitiker ist es von entscheidender Bedeutung, diese Änderungen zu erfassen und sie dann auch
entsprechend zu interpretieren. Dafür kann die Auseinandersetzung mit der Stimmigkeit von Wirtschaftsprognosen
nützlich sein.“
Aus Sicht des Unternehmers thematisiert Dr. Erich Wiesner, Eigentümer und Geschäftsführer der Wiesner-Hager
Baugruppe Holding GmbH, die Folgen unzutreffender Prognosen: „Der seit einem Jahr immer wieder ‚verschobene‘ Aufschwung,
bzw. die Korrektur des erwarteten Wirtschaftswachstums nach unten, löst bereits leichte Panik aus.“ Angesichts
der geringeren Treffsicherheit von Prognosen in einer komplexer gewordenen Wirtschaftswelt, wird es verstärkt
zur unternehmerischen Aufgabe, das richtige „G’spür“ zu bekommen für die wirtschaftliche Entwicklung:
„Als Unternehmer sind wir wieder verstärkt gefragt, auf das Gefühl zu horchen !“
Univ. Prof. Dr. Bernhard Felderer, Leiter des Instituts für Höhere Studien (IHS) in Wien, hält anhand
der statistischen Daten fest. „Die Prognosen der österreichischen Institute sind besser als ihr Ruf. Die mittlere
absolute Abweichung der IHS- und WIFO-Prognosen, die im März für das laufende Jahr gemacht werden, beträgt
für die Jahre 1990 bis 1999 rund einen halben Prozentpunkt des BIP.“ Professor Felderer ortet ein Problem
eher auf Seiten der Benutzer der Prognosen, die einerseits unerfüllbare Erwartungen hegen und andererseits
nur die Ergebnisseite konsultieren und die detailliert angeführten Rahmenbedingungen und komplexen Gesamtanalysen
überblättern: „Prognosen können eben nur ein Hilfsmittel unter mehreren für die Entscheidungsfindung
in Unternehmen und Politik sein.“
Eine umfassende Darstellung der Besonderheiten der derzeitigen konjunkturellen Situation enthält der „industrie
aktuell“ – Beitrag von Univ. Prof. Dr. Helmut Kramer, Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts WIFO: „Konjunkturrückschläge,
für die aus den siebziger und achtziger Jahren Erfahrungen vorlagen, waren von einem anderen Typ als der jetzige.
Sie waren überwiegend milde und vor allem kurze Rezessionen. Erst seit Anfang der neunziger Jahre kann in
Japan ein Typus eines Konjunkturrückschlags wieder beobachtet werden, welcher eigentlich die ganze Geschichte
des Kapitalismus bis zum Zweiten Weltkrieg beherrscht hatte: eine Überinvestitionskrise und nachfolgend ein
hartnäckiges depressives Syndrom. Wenn ihnen rechtzeitig begegnet wird, müssen sich solche Mechanismen
nicht zu einer so langen Krise auswachsen wie in Japan. Aber zu hohe private Schuldenstände, Buchverluste
an den Börsen, Risikoscheu von Investoren und Banken sind die Ingredienzien, dass eine solche Entwicklung
in eine Liquiditätsfalle führen kann, aus der ein Entkommen nur noch um den Preis der massiven Inflationierung
- also mit Beschlüssen, auf die die Geldpolitik nicht vorbereitet ist - möglich erscheint.
Heute ist klar, dass alle Prognosen einer weltweiten Konjunkturabschwächung, die ab Frühjahr 2001 veröffentlicht
wurden, zu vorsichtig waren. Ja, zugegeben: die Konjunkturprognosen waren falsch. Sie waren aber entschieden weniger
falsch als die Illusionen europäischer Wirtschaftspolitiker.“
Weitere Beiträge zum Industrieforum „Konjunkturanalyse in der Krise“ wurden von Mag. Brigitte Ederer, Vorstandsmitglied
von Siemens Österreich, und Dr. Erhard Fürst, Bereichsleiter für Industriepolitik und Ökonomie
der Industriellenvereinigung, verfasst.
Alle Beiträge sind in der neuesten Ausgabe von „industrie aktuell“ (4/2002) nach zu lesen.
Quelle: invest kredit wien |