Polnische Kunst zwischen Experiment und Repräsentation von 1918 bis 1939
Wien - Vom 25. Jänner bis 31. März 2003 zeigt das "Leopold Museum" - im Rahmen
des Polnischen Jahres in Österreich 2002/2003 die Ausstellung "Der Neue Staat. Polnische Kunst zwischen
Experiment und Repräsentation". Präsentiert wird das Kunstgeschehen im Nachbarstaat aus der Zeit
von 1918 bis 1939. Nahezu 200 Werke von 80 Künstler und Künstlerinnen werden in markanten Werkgruppen
aus den Bereichen Malerei, Skulptur, Zeichnung und Kunstgewerbe zu sehen sein. Gezeigt werden darüber hinaus
Beispiele "neuer Massenmedien" wie Plakatkunst, Industriedesign, Typografie, Fotografie und Film. Erstmals
wird in Österreich ein solch breites Spektrum an künstlerisch polarisierenden Positionen vorgestellt.
Die Ausstellung wird durch ein Rahmenprogramm mit Filmen und Vorträgen begleitet.
Als Polen am 11. November 1918 nach 123 Jahren der Aufteilung des Landes zwischen Preußen, Russland und Österreich-Ungarn
seine Unabhängigkeit als demokratische Zweite Republik (II Rzeczypospolita) erlangt, formiert sich der nationale
"Neue Staat". Die folgenden 20 Jahre stehen zumindest am Beginn im Zeichen eines großes Enthusiasmus
und einer Dynamik in vielen Lebensbereichen.
Ab 1922 zeichnet sich in Polen eine demokratiefeindliche Tendenz ab. Der erste demokratisch gewählte Präsident,
Gabriel Narutowicz, kommt bei einem Attentat in der Warschauer Galerie Zacheta ums Leben. Der nationalistisch gesinnte
Täter ist ironischerweise ein Vertreter der Kunstschaffenden. Die Demokratie zeigt erste Risse. Die ethnisch,
kulturell und ökonomisch stark ausdifferenzierte Bevölkerung aus den ehemals annektierten Gebieten verlangt
in einer veränderten Realität nach einem neuen nationalen Zusammenhalt. So können die erste ökonomische
Krise und die steigende Inflation 1925 gerade noch durch den Finanzminister W?adys?aw Grabski, der die polnische
Nationalwährung, den Zloty, einführt, abgewendet werden.
Den Bereichen Kunst und Politik kommt in der polnischen Moderne eine besondere Funktion zu. Obwohl viele Kunstschaffende
zu Beginn der Unabhängigkeit hoffen, die Bildungsarbeit dem neuen Staat überlassen zu können, verstärkt
sich die wechselseitige Durchdringung der beiden Bereiche im Lauf der Zeit. Die kosmopolitischen linken Kreise
der Avantgarde prägen den Topos einer möglichen politischen Bedeutung von Kunst ebenso wie die patriotischen
Gruppierungen der Mitte und die rechten "Nationalisten".
Im Rahmen der Ausstellung soll hinsichtlich der veränderten Orientierungslinien einer vereinheitlichenden
Kulturpolitik gefragt werden, welche Rollen, Optionen und Haltungen zwischen Experiment und Repräsentation
KünstlerInnen sowie die Kunst per se im Prozess der Konsolidierung entgegengesetzter ideologischer Kräfte
eingenommen haben. Es soll überprüft werden, welche künstlerischen Potenziale in der Politik und
welche ideologischen Dispositionen in der Kunst ablesbar sind.
So wird durch die Geburt des Nationalgefüges im polnischen Kulturleben eine außergewöhnliche Vielfalt
an ästhetischen Reaktionen und Utopien begünstigt. Unzählige Künstlergruppen, Künstlervereinigungen
und Kunstzeitschriften werden gegründet und größtenteils bald wieder aufgelöst. Diese äußerst
aktive Kulturszene erzeugt ein heterogenes Kunstschaffen. Unterschiedliche Strömungen und Richtungen bilden
sich in der Folge heraus - Formisten und Futuristen in Krakau und Warschau, Expressionisten in Poznan (Posen),
Konstruktivisten in Warschau und Lodz, Fotorealisten in Poznan, Puristen in Warschau und Lodz, Kapisten (Koloristen)
in Krakau und Poznan, Surrealisten in Lwow (Lemberg) und Krakau, Neuer Klassizismus in Warschau und Wilna.
Eine zentrale Position in der Ausstellung nehmen die Werke und theoretischen Überlegungen des Künstlers,
Logikers und Philosophen Leon Chwistek (Krakau 1884 - Moskau 1944) ein. Chwistek, der heute außerhalb Polens
kaum bekannt ist, führt bereits 1918 in Auflehnung gegen das dualistische Modell der ersten Avantgarden das
Theorem der "Pluralität der Wirklichkeiten in der Kunst" ein. In den folgenden Jahren plädiert
er in interdisziplinären Diskursen über Kunst, Mathematik, Poesie, Architektur und Politik im Gegensatz
zum Agitprop und zur missionarischen Geste der Avantgardisten für eine offene, moderne und transnationale
Gesellschaft. In der Kunst entwirft Chwistek die Theorie des Strefismus (poln. Strefizm), derzufolge eine Bildfläche
mittels Farben und Formen, die in kontrastreichen Zonen angeordnet sind, konstruiert wird. Chwisteks Denkansatz
löst sowohl radikale als auch oppositionelle Reaktionen aus. Eine der bekanntesten war die öffentliche
Polemik mit dem Protagonisten der "reinen Form", dem Künstlerphilosophen und Theaterschriftsteller
Stanislaw Ignacy Witkiewicz (Warschau 1885 - Jeziory 1939).
Mit dem Ausbruch des Krieges 1939 hört der polnische Staat auf zu existieren. Der Künstler Witkiewicz
begeht am 18. September dieses Jahres wegen der Okkupation Polens durch Hitler und Stalin Selbstmord. Viele Intellektuelle
und Künstler werden vertrieben oder ermordet, u.a. Karol Hiller, Bruno Schulz und die Geschwister Efraim und
Menasze Seidenbeutel. Leon Chwistek flüchtet nach Russland, wo er 1944 in Moskau stirbt. |