Regierungskonferenz /Ratsvorsitz:
Was brachte uns Berlusconi?
 

erstellt am
17. 12. 03

Brüssel (europarl.eu.int) -Bericht des Europäischen Rates und Erklärung der Kommission - Tagung des Europäischen Rates; Erklärungen des Rates und der Kommission - Treffen der Staats- und Regierungschefs - Regierungskonferenz (Brüssel, 12./13. Dezember 2003); Erklärung des amtierenden Ratsvorsitzenden - Halbjahresbericht des italienischen Ratsvorsitzes; Erklärungen und Gemeinsame Aussprache: 16.12.2003

Präsident des Europäischen Parlaments:
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Pat COX, erklärte, unter der italienischen Ratspräsidentschaft habe es wesentliche Fortschritte in einigen Bereichen sowie eine enge Zusammenarbeit mit dem EP gegeben. Er gab sodann seine auf dem Europäischen Rat und der Regierungskonferenz vertretene Position wider. Dort habe er die Bedenken des EP zu Guantanamo Bay offen angesprochen. Er habe darauf hingewiesen, dass die Kontakte mit Russland vertieft werden müssten, um eine Umsetzung des Kioto-Protokolls sicherzustellen. Deutlich habe er sich für das ausgewogene Ergebnis des Konvents zum Haushaltsverfahren eingesetzt; die Einmischung des ECOFIN-Rates habe er verurteilt. Es dürfe, so habe er gefordert, keinen Kuhhandel geben, der die Zahl der Abgeordneten erhöhe.

Das Scheitern der Regierungskonferenz sei ein Rückschritt, der jedoch nicht zu einer Katastrophe führen müsse. Man müsse sich jetzt schnell einigen. In der heutigen Debatte werde man eine klare Botschaft an die irische Ratspräsidentschaft richten.

Erklärung des Rates:
Der amtierende Ratspräsident, der italienische Ministerpräsident Silvio BERLUSCONI, erkannte an, dass die Regierungskonferenz nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt habe. Vor allem aber im Bereich der Verteidigung seien erhebliche Fortschritte erzielt worden. Zuletzt seien institutionelle Fragen offen geblieben. "Ein wirkliches Scheitern wäre ein fauler Kompromiss gewesen, der nicht die zukünftige Funktionsfähigkeit der EU gewährleistet." Der italienische Vorsitz sei gelobt worden. Er (Berlusconi) habe gespürt, "dass das Verhandlungserbe nicht verloren gehen soll". Es gebe einen "Verhandlungsbesitzstand" von 82 gelösten Fragen. "Wir standen kurz vor einer Einigung in der Nacht von Freitag auf Samstag", aber am Samstagmorgen habe es einen Rückschritt gegeben. Es sei sogar vorgebracht worden, dass in manchen Ländern die Parlamente konsultiert werden müssten. Deswegen habe man die Verhandlungen abbrechen müssen.

Der Europäische Rat habe die europäische Wachstumsinitiative verabschiedet. Dadurch sollten die Investitionen in Humankapital (z. B. in Form von Forschung) und in Infrastruktur (wie insbesondere die Transeuropäischen Netze) gefördert werden. Die Wachstumsinitiative halte sich an die Lissabonner Strategie und den Stabilitätspakt. Da die EZB anders als die amerikanische Bundesbank nicht das Wirtschaftswachstum fördern solle, müsse die EU selbst solche Maßnahmen ergreifen. Berlusconi würdigte die Arbeit von Wim Kok und seines Fachausschusses. Dieser Ausschuss habe vorgeschlagen, die europäische Beschäftigungsstrategie zu flexibilisieren, was die Billigung des Europäischen Rates gefunden habe.

Die Kontrolle der Außengrenzen sei unter italienischem Ratsvorsitz verbessert worden. Die Europäische Agentur zur Kontrolle der Außengrenzen werde ab Anfang 2005 einsatzfähig sein. Mit einigen EU-Anrainerstaaten im Süden seien erfolgreiche Gespräche zur Migrationseindämmung geführt worden. Die Kommission solle eine Studie zum Verhältnis der legalen zur illegalen Einwanderung vorlegen. Allerdings sei im Flüchtlingsbereich kein Fortschritt erzielt worden, mit Ausnahme eines neuen Programms für Drittländer. Es gebe auch eine politische Einigung für eine Rahmenregelung zur Drogenbekämpfung.

Ein echter Dialog mit den muslimischen Ländern müsse stattfinden. Der Europäische Rat habe jede Gewalt und auch den Antisemitismus verurteilt. Eine Europäische Agentur zur Beschaffung von Rüstungsgütern sei beschlossen worden. Man habe sich auf den Sitz von zehn neuen Agenturen einigen können. Die Beitrittsverhandlungen seien vorangebracht und die Stabilität auf dem Balkan gefördert worden. Der Mittelmeerraum werde nun besser finanziell gefördert. Die transatlantischen Beziehungen und die zu Russland seien gestärkt worden.

Erklärung der Kommission:
Der Präsident der Europäischen Kommission, Romano PRODI, zeigte fünf wichtige Punkte auf, in denen es unter italienischer Ratspräsidentschaft eine Einigung gegeben habe: die Rückverfolgbarkeit von gentechnisch veränderten Organismen, das Rahmenabkommen zur Raumfahrtagentur, den einheitlichen europäischen Luftraum, die öffentliche Auftragsvergabe und das sich abzeichnende politische Übereinkommen zur Übernahmerichtlinie.

Die Europäische Wachstumsinitiative sei einstimmig verabschiedet worden. Wichtig sei auch die Einigung des Rates zum Sitz der Agenturen. Anlass zu Trauer und Enttäuschung gebe es jedoch, da der Verfassungsentwurf nicht verabschiedet worden sei. Dieser sollte dem Fortschritt dienen, einige Mitgliedstaaten hätten allerdings die Situation genutzt, um einen Rückschritt zu machen. Man könne die Institution EU nicht gestalten, wenn der einzige Parameter die Blockademöglichkeit sei. Das Vetorecht sei kein Ausdruck des demokratischen Wirkens.

Nun müsse man mit Mut und Einfallsreichtum eine Lösung finden. Die Pioniergruppe könnte ein Ausgangspunkt sein. Er appellierte an die Abgeordneten, ihre Vision im Dienste der Verfassung Europas einzubringen. Nur die EU werde uns die Kraft verleihen, die regionalen Traditionen beizubehalten. Wenn es keine Einigung gebe, würden die Mitgliedstaaten ihren Einfluss auf die Welt verlieren.

Vertreter der Fraktionen:
Hans-Gert POETTERING (EVP-ED, D) sagte: "Der 13. Dezember 2003 war kein guter Tag für Europa." - "Das Scheitern der Regierungskonferenz darf kein Scheitern der europäischen Verfassung sein." Man brauche eine europäische Verfassung. Nur die Verfassung könne sicherstellen, dass Europa im Frieden durch das 21. Jahrhundert gehen könne. Die Verfassung müsse sich auf das Gemeinschaftsrecht stützen und dürfe nicht auf eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit und Achsenbildung zurückfallen.

Es dürfe keine Schuldzuweisung an einzelne Staaten geben.

Wie solle denn ein Kerneuropa funktionieren, wenn die Einigung in verschiedenen Sachfragen zwischen unterschiedlichen Staaten bestehe?

Man müsse innehalten und sich besinnen, das Erreichte, wie den Euro, bewahren und nicht schon in Richtung auf eine zusätzliche Erweiterung hinsteuern, die das ganze Aufbauwerk gefährden würde.

Enrique BARÓN CRESPO (SPE, E) meinte, trotz der professionellen Arbeit der italienischen Regierung habe die Regierungskonferenz nicht zu einer neuen Magna Charta geführt. Man müsse den Gemeinschaftssinn neu beleben. Berlusconi habe gesagt, und das müsse protokolliert werden, dass 95 % der Fragen nicht mehr diskutiert werden müssten. Glaube Berlusconi, dass man zur Konventsmethode zurückkehren müsse, oder solle eine weitere Nachtsitzung die offenen Probleme lösen? Durch die Reform des Stabilitätspakts solle die Wirtschaftskraft Europas gestärkt werden.

Graham WATSON (LIBE, UK) sprach von einem "persönlichen Scheitern für den Präsidenten des Europäischen Rates". Die Regierungskonferenz müsse sogleich wieder zusammentreten. Die Verfassung müsse öffentlich diskutiert und unterstützt werden. Auch der Europäische Rat sei enttäuschend verlaufen. Man sei nicht auf Guantanamo-Bay und die Wahlen in Russland eingegangen. Der Europäische Rat habe deutlich gemacht, dass er die Werte des EP nicht respektiert oder einfach ignoriert. "Ich weiß nicht, wie Sie ein Scheitern definieren", wenn Sie dies nicht als Scheitern darstellen, sagte Watson abschließend zu Berlusconi.

Francis WURTZ (KVEL/NGL, F) bedauerte das Ergebnis des Gipfels, obwohl er den Verfassungsentwurf vorher kritisiert habe. Es habe nur Machtstreitigkeiten gegeben. Man habe sich nicht auf die europäischen Werte konzentriert. Die EU entspreche nicht mehr den Erwartungen der Bürger. Man befinde sich in einer Sackgasse. Die Drohung mit haushaltstechnischen Maßnahmen einiger Mitgliedstaaten schade der Solidarität. Ein politischer Entwurf für ein fortschrittliches Sozialmodell sei notwendig. Die Ergebnisse des Rates hätten gezeigt, dass der Konvent allein nicht reiche, die Bürger müssten beteiligt werden.

Für Monica FRASSONI (GRÜNE/EFA, B) ist die EU heute weder stärker noch geeinigter als vor sechs Monaten. Die geringe internationale Glaubwürdigkeit sei noch weiter reduziert worden. Die Einigung, die sich beim Gipfel abgezeichnet habe, wäre problematischer gewesen als die jetzige Krise. Diese Krise könne zu einer besseren Verfassung führen, wenn die Bürger und die Parlamente beteiligt würden. Es dürfe keine kreative Pause geben. Das Veto bei institutionellen Reformen müsse gestrichen werden. Die Iren müssten prüfen, ob eine schnelle Einigung möglich sei. Wenn nicht, müsse der Verfassungsprozess nach den Europawahlen wieder belebt werden.

Cristiana MUSCARDINI (UEN, I) erklärte, es sei wichtig, dass sich die EU unabhängig und solidarisch zeige. Sie müsse effizient arbeiten. Der Rat müsse die Rolle der EU in der Welt gestalten. Beispielsweise bei der Bekämpfung des Terrorismus, der Globalisierung der Märkte und der Zusammenarbeit mit den Nachbarn. Die Bürger wollten weder einen föderalen Superstaat, noch eine EU-Freihandelszone.
2003 sei ein tragisches Jahr für die EU gewesen, so William ABITBOL (EDU, F). Kein Bürger werde bedauern, dass es keine Verfassung gebe, da sich die EU zu weit von den Bürgern entfernt habe. Es habe am politischen und demokratischen Willen gefehlt, die Verfassung zu verabschieden. Jeder fahre seinen eigenen Kurs.

Marco PANNELLA (FL, I) erklärte, man habe es nicht geschafft, den Verfassungsvertrag zu verabschieden, da man bürokratisch reagiert habe und in nationalen Bestrebungen steckengeblieben sei. Die EU von Spinelli, Schuman und Adenauer gebe es nicht mehr. Die EU-Ratspräsidentschaft habe Kompromisse vorgetäuscht, nun zahle man den Preis dafür. "Wir als EP müssen uns befreien. Wir sind nicht mal mehr frei, zu entscheiden, wann, wo und wie wir tagen."

Weitere deutschsprachige Abgeordnete:
Johannes VOGGENHUBER (GRÜNE/EFA, A) führte aus, man könne auf drei Arten scheitern: an den Gegnern, an zu hohen Zielen oder an sich selber. "Die Regierungskonferenz ist an sich selber gescheitert." Die Regierungen hätten versucht, ihre Egoismen und eigenen Vorteile zu verfolgen. Es bleibe nur der Appell, den Konventsentwurf doch noch zu akzeptieren.

Elmar BROK (EVP-ED, D) befürchtete, "dass alles zerläuft" und dass "das Momentum für den Konventstext verloren geht". Er wolle kein Kerneuropa und keinen Kompromiss, der weniger Demokratie und nicht mehr Handlungsfähigkeit bringe, sondern ein verfasstes Europa. Die Außenminister sollten schnell zusammentreten, um das Erreichte zu protokollieren. Die Staats- und Regierungschefs sollten noch vor dem 1. Mai 2004 einen neuen Anlauf machen, damit man nicht so vor die Wähler treten müsse.

Klaus HÄNSCH (SPE, D) sagte: "Es ist besser, der Gipfel ist gescheitert, als der Entwurf für eine Verfassung für Europa." - "Wir überwinden (die Krise) nicht durch Stillstand, sondern durch Bewegung." Nicht eine später kommende Verfassung, sondern eine Spaltung Europas sei die Gefahr. Europa sei gerade dabei, in der Welt Einfluss zu verlieren. Das Vertrauen der Bürger in die Zukunftsfähigkeit Europas zurückzugewinnen, sei sehr schwierig.

Sylvia-Yvonne KAUFMANN (KVEL/NGL, D) sagte, schon vor der Erweiterung sei die erweiterte Union an nationalstaatlichem Kleingeist gescheitert. Die europäische Idee habe schweren Schaden genommen. Die USA profitierten von den Verteidigungsbeschlüssen. Nur die wenigsten Bürger interessierten sich für den Verfassungsentwurf.

Martin SCHULZ (SPE, D) bezog sich auf seine Frage zu Anfang der Ratspräsidentschaft, was Berlusconi zur beschleunigten Einführung des europäischen Haftbefehls zu tun gedenke. Nun liege die Antwort vor: "Nichts". Am 01.01.2004 werde es den europäischen Haftbefehl, das Kernstück des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, nicht geben. Ab dem 01.01.2004 trete somit ein schlechterer Zustand für die Strafverfolgung ein. Er wisse nicht, wem hieraus ein Vorteil erwachse, es sei jedoch auf jeden Fall ein Nachteil für die europäischen Bürger. Die Ratspräsidentschaft habe in dieser Frage komplett versagt.

Für Hannes SWOBODA (SPE, A) war die Verabschiedung der europäischen Sicherheitsstrategie positiv. Wie solle diese jedoch ohne einen gemeinsamen europäischen Willen und die gemeinsamen Institutionen wie den Außenminister umgesetzt werden? Wie solle die EU im Wettbewerb bestehen, wenn sie nicht gemeinsam handele? Ein Kern-Europa sei keine Lösung. Man müsse auf eine gemeinsame EU mit einer gemeinsamer Verfassung, an der möglichst viele Staaten teilnehmen, hinarbeiten.

Othmar KARAS (EVP-ED, A) erklärte, Europa sei nie fertig. Aber das Projekt müsse zu einer politischen Union weiterentwickelt werden, ansonsten verliere man das Vertrauen der Bürger und könne die Verantwortung in der Welt nicht wahrnehmen. Er beklagte das Fehlen eines ausreichenden politischen Willens und den Mangel an europäischen Staatsmännern. Immer, wenn die Zukunft der EU von der Einstimmigkeit im Rat abhänge, komme es zu einer Krise. Der Konvent müsse nach Weihnachten einberufen werden, um eine Lösung zu finden.

Markus FERBER (EVP-ED, D) meinte, man müsse sich folgende Fragen stellen: Was sind wirklich die Gemeinsamkeiten von 25 Mitgliedstaaten? Was sind die Aufgaben, die Instrumente, die Prozeduren und der richtige Finanzrahmen, die dieses Europa braucht? Ist nicht die Vertiefung jetzt wichtiger als die Erweiterung über die 25 hinaus? Die EU müsse überhaupt erweiterungsfähig gemacht werden.

Vertreter des Rates:
Laut dem amtierenden Ratspräsidenten, dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio BERLUSCONI ist seit Wochen bekannt, dass ein konkretes Ergebnis der 60-tägigen Regierungskonferenz nicht möglich gewesen sei. Aber nur Optimisten kämen weiter. Man dürfe kein Europa der ersten und der zweiten Liga schaffen. Die Jugend sei mit Enthusiasmus für Europa, und das alte Europa solle dadurch verjüngt werden. Die Ergebnisse der Regierungskonferenz würden als "Besitzstand der Verhandlungen" angesehen. Es sei also ein großer Schritt nach vorne gemacht worden. Die offene Frage der Mehrheitsentscheidungen sei der Dreh- und Angelpunkt für ein handlungsfähiges Europa - auch für dessen Rolle in der Welt. Nur ein Entscheidungsmodus, der nicht auf Einstimmigkeit basiert, könne weiter führen. Der italienische Vorsitz habe darauf bestanden, den Konventsvorschlag zu dieser Frage vorzuschlagen und deshalb inhaltlich keinen anderen Vorschlag gemacht. Der Vorsitz habe nur eine zeitlich verzögerte Einführung des Konventsvorschlags oder eine Revisionsklausel vorgeschlagen. Diese Vorschläge seien jedoch nicht konsensfähig gewesen. Deswegen habe man eine Vertagung beschlossen. Er sei optimistisch, dass man unter dem irischen oder dem niederländischen Vorsitz eine Lösung finden werde. Alle Regierungen seien sich ihrer Verantwortung bewusst gewesen.

Vertreter der Kommission:
Kommissionspräsident Romano PRODI erklärte, dass die Kommission die Absicht habe, mit Russland und anderen Ländern weiter an der Ratifizierung des Kioto-Protokolls zu arbeiten. Die Abgeordneten sollten in Zukunft darauf achten, dass die langwierige Arbeit des Konventes nicht verloren gehe. Es gebe zwar Konsens in vielen Punkten, in anderen leider nicht. Problematisch sei die Beibehaltung der Einstimmigkeit in vielen Bereichen. Viele Probleme lägen noch vor uns. Der Konventstext werde weiter der ständige Bezugspunkt bleiben.
 
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