Österreich hat gewählt  

erstellt am
02. 10. 06

SPÖ gewinnt, ÖVP auf Platz 2
Eine erste Analyse der Nationalratswahl 2006
Wien (öj) - Pünktlich um 17 Uhr gab der ORF die ersten SORA- Hochrechnungs- Ergebnisse der Nationalratswahl bekannt. Für die ÖVP führten diese zu einer bitteren Erkenntnis: Monatelang war die Kanzlerpartei in allen Umfragen meist vorne gelegen und mußte nun mit einem Verlust von rund 8 Prozentpunkten im Vergleich zur Wahl im Jahr 2002 den ersten Platz an die SPÖ abgeben. Dort war die Überraschung sogar bei jenen sehr groß, die mit einem guten Abschneiden für ihre Partei fest gerechnet hatten. Das SORA Institute for Social Research and Analysis hat in einer Wahltagsbefragung in Kooperation mit ifes 1500 Wahlberechtigte befragt und die folgenden wichtigsten Trends dieser Wahl zusammengefaßt:

  • Die SPÖ gewinnt den Themenwahlkampf und damit die Wahl. Arbeitslosigkeit, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Gesundheit etc. sind als Themen wichtig und werden auch als SPÖ-Wahlmotive genannt. Die Mehrheit der SPÖ bei den unselbständig Erwerbstätigen sichert Platz eins ab.
  • Die ÖVP kann den Kanzlerbonus nicht mitnehmen und verliert die Wahl. Die Verluste sind vor allem bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu verzeichnen.
  • Die FPÖ hat mit zwei Themen gepunktet, mit einem Zentralen (AusländerInnen) und einem Untergeordneten (einer skeptischen Haltung zur EU, insbesondere zum EU-Beitritt der Türkei).
  • Die Grünen gewinnen ihre Stimmen vor allem in der jungen Bildungsschicht und in den Ballungsräumen und punkten mit ihrem Kernthema Ökologie.
  • Für das BZÖ ist es knapp – die Wahlkarten können hier noch entscheiden, so der Stand am Wahlabend um 19:20 Uhr. Jörg Haider war als Spitzenpolitiker wesentlich wichtiger als Peter Westenthaler. Auch beim BZÖ ist das Ausländerthema zentral, wenn auch nicht so wichtig wie bei der FPÖ.
  • Die Themen von Hans Peter Martin haben keine wesentliche Rolle gespielt.
  • Die BAWAG hat die Ausgangsposition für den Wahlkampf beeinflusst, die ÖVP in die Favoritenrolle gebracht und die SPÖ zur Herausfordererin gemacht. Schlussendlich war die Bawag aber kein zentrales Wahlmotiv.

In einer großen Diskussionsrunde in ORF 2 versuchte Chefredakteur Prof. Werner Mück, die beiden Chefs der großen Parteien Alfred Gusenbauer von der SPÖ und Wolfgang Schüssel von ÖVP, aber auch die der Grünen, Prof. Alexander Van der Bellen, der FPÖ, Heinz-Christian Strache, und des BZÖ, Peter Westenthaler zu Koalitionsaussagen zu überreden - was ihm aber nicht gelang. Man würde die Sondierungsgespräche sicherlich nicht vor laufender Kamera führen, es müßte natürlich auch erst in den jeweiligen Parteigremien über Wahlausgang und Zukünftiges nachgedacht werden.

Alles andere wäre auch insoferne übereilt, da die Kräfteverhältnisse im Hohen Haus nämlich noch gar nicht feststehen. Erst wenn nämlich die rund 400.000 Wahlkarten ausgezählt sind - und damit ist erst in etwa einer Woche zu rechnen - wird es erst definitiv sein, welche Koalitionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Nach derzeitigem Stand der Dinge bietet sich nur eine Variante, nämlich die der Großen Koalition von SPÖ und ÖVP, für alle anderen haben die, wie gesagt "vorläufig", drei kleinen Parteien für sich alleine zu wenig Stimmenanteil, um mit einer der beiden großen eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden. Dazu bedarf es zumindest 92 der 183 Mandate im Nationalrat. SPÖ und Grüne würden aber derzeit nur 46,2, ÖVP und BZÖ nur 38,4 Prozent erreichen. Selbst, wenn BZÖ und FPÖ miteinander wollten/könnten, selbst wenn die ÖVP mit der FPÖ wollte/könnte, ließen sich nur 48,6 Prozent erreichen. Sollte sich durch die Auszählung der Wahlkarten also nichts ändern, bedeutete dies die Große Koalition unter der Führung von Alfred Gusenbauer mit einem Juniorpartner ÖVP, wobei nicht sicher ist, ob Wolfgang Schüssel als Vizekanzler zur Verfügung stehen wird, auch wenn er dies weder präferiert noch ausschließt. Die SPÖ müßte in diesem Fall der ÖVP ziemlich weitreichende Zugeständnisse machen, wäre diese ja der einzig mögliche Regierungspartner. Und Neuwahlen würden wohl in einem Desaster enden.

Kommen wir zurück zu den Wahlkarten, die erfahrungsgemäß bisher ein wenig mehr für die Grünen einbrachten; die FPÖ (das BZÖ gab es ja bei der letzten Wahl 2002 noch nicht) hatte dadurch keine nennenswerten Vorteile. Sollte dieses Wählerverhalten auch diesmal zutreffend sein, würde das bedeuten, daß das BZÖ durch den Stimmenzuwachs bei den Mitbewerbern ein paar Zehntelprozent-Punkte verliert, damit unter die magische Vier-Prozent-Grenze rutscht und - mangels Grundmandat in Kärnten - doch noch den Einzug ins Hohe Haus verpaßt. Meinungsforscher meinen dazu, diese Situation bewege sich zwischen "praktisch auszuschließen", "eher unwahrscheinlich" und "immerhin möglich".

Das wiederum könnte den Grünen jenen Stimmenzuwachs einbringen, der eine gemeinsame Mehrheit mit der SPÖ ermöglichte und damit auch eine Regierungsbildung. Diese soll übrigens, so Alfred Gusenbauer am Wahlabend, nicht allzulange dauern, "so um Leopoldi herum" könnte er sich vorstellen, das hieße Mitte November. Dies erwartet sich auch Bundespräsident Heinz Fischer, der sich auch von der niedrigen Wahlbeteiligung betroffen zeigte. Wolfgang Schüssel meinte, es wäre schon gut, schnell eine handlungsfähige Regierung zu haben. Man sollte aber die Qualität dem Tempo vorziehen. Die SPÖ jedenfalls könnte die ÖVP in Koalitionsgesprächen darauf aufmerksam machen, daß sie nicht der einzige Partner wäre, könnte dann auch den Grünen einiges abverlangen und damit ihre eigenen Ziele wesentlich besser umsetzen.

Es wird wohl noch einiges an Zeit und "Über-den-eigenen-Schatten-springen" brauchen, um die durch den Wahlkampf zwischen den Parteien aufgeheizte Stimmung wieder zu besänftigen. Doch erste Anzeichen gab es bereits in der ersten Gesprächsrunde am Abend nach der Wahl: in Form versöhnlicher Töne.

   

Die großen Trends dieser Wahl sind

  • Die niedrige Mobilisierung der Großparteien sorgt für die relativen Zugewinne der kleineren Parteien. Die ÖVP hat 215.000 Stimmen durch Wahlenthaltung verloren, 183.000 SPÖ-WählerInnen von 2002 sind nicht zur Wahl gegangen.
  • Die ÖVP hat an fast alle anderen Parteien Stimmen verloren, sie ist z. B. im Wähleraustausch mit der SPÖ stark negativ (im Saldo minus 70.000 Stimmen).


Die ÖVP verliert 215.000 Stimmen an die NichtwählerInnen. Je knapp 100.000 WählerInnen wandern zu SPÖ, FPÖ und Grünen. Auch das BZÖ hat ziemlich viele Stimmen (58.000) von der ÖVP erhalten. Umgekehrt gewinnt die ÖVP kaum Stimmen dazu. Die Behalterate der ÖVP liegt bei 70%, etwa sieben von zehn ÖVP-WählerInnen aus dem Jahr 2002 haben wieder ÖVP gewählt.

Die SPÖ gibt ebenfalls Stimmen an die NichtwählerInnen ab, allerdings in geringerem Ausmaß (183.000) als die ÖVP. Sie verliert 112.000 Stimmen an die FPÖ und kann im Gegenzug 38.000 ehemalige FPÖ-WählerInnen mobilisieren. Die Verluste an die FPÖ werden durch Zugewinne von der ÖVP ausgeglichen. Im Saldo hat die SPÖ weniger an die FPÖ verloren als die ÖVP. Die Sozialdemokraten haben bei dieser Wahl mit 78% die höchste Behalterate.

Mehr als ein Fünftel der FPÖ-WählerInnen von 2002 ging dieses Mal nicht zur Wahl. Weitere 70.000 wanderten zum BZÖ ab. Die Behalterate der FPÖ liegt bei nur 47%, das heißt, dass jede/r zweite WählerIn der letzten Nationalratswahl zu einer anderen Partei gewechselt hat oder nicht mehr wählen ging. Gewonnen hat die FPÖ vor allem von den Großparteien ÖVP und SPÖ.

Die Grünen profitieren von einem starken Zustrom von ehemaligen ÖVP-WählerInnen. Jede/r fünfte GrünwählerIn des Jahres 2006 kommt von der Kanzlerpartei. Diese Gewinne werden durch Verluste an die NichtwählerInnen egalisiert, jede/r fünfte Grün-WählerIn von 2002 enthält sich 2006 der Stimme. Die Behalterate der Grünen liegt bei 62%.

Das BZÖ bekommt rund ein Drittel seiner WählerInnen von der ÖVP, ein weiteres gutes Drittel kommt von der FPÖ.

Die Liste Hans Peter Martin zieht nicht in den Nationalrat ein. Ihre WählerInnen kommen hauptsächlich von der ÖVP, der SPÖ und den Sonstigen.

Die Sonstigen setzen sich zusammen aus der KPÖ, die bundesweit antrat, sowie nur in einzelnen Bundesländern antretenden Parteien. Keine der in den Sonstigen enthaltenen Parteien wird in den Nationalrat einziehen.

   

Tabelle 1: Wählerwanderungen bei der Nationalratswahl 2006, absolut in 1000 Stimmen

Beispiel: Von den ÖVP-WählerInnen 2002 haben 1.439.000 wieder die ÖVP gewählt, 92.000 die SPÖ, 98.000 haben die FPÖ gewählt, etc.

Tabelle 2: Wählerwanderungen bei der Nationalratswahl 2006, in Prozent

Beispiel: Von den ÖVP-WählerInnen 2002 haben 70% wieder die ÖVP gewählt, 4% die SPÖ, 5% haben die FPÖ gewählt, etc.

     
Quelle: SORA Institute for Social Research and Analysis    
     
Vorläufiges Endergebnis der Nationalratswahl
Österreich hat gewählt - erste Stellungnahmen der Parteien
   
     
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