Wien (wifo) - Das für die nächsten fünf Jahre prognostizierte mittelfristige Wachstumstempo
in Österreich von 2,1% reicht nicht aus, um die Arbeitslosigkeit zu senken. Die Arbeitslosigkeit würde
sich bestenfalls auf dem aktuellen relativ hohen Niveau verfestigen. Das WIFO schätzt in seinem soeben fertiggestellten
Weißbuch "Mehr Beschäftigung durch Wachstum auf Basis von Innovation und Qualifikation" die
Wachstumsschwelle, ab der die Beschäftigung zu steigen beginnt, auf 2%, jene, ab der die Arbeitslosigkeit
sinkt, auf 2,5%. Der wichtigste Hebel zur Steigerung der Beschäftigung ist ein höheres Wirtschaftswachstum.
(Lesen Sie hier die Reaktionen aus den Parteien.)
Das Wirtschaftswachstum kann beschleunigt werden durch
- höhere Ausgaben für Forschung, Ausbildung, Weiterbildung und Infrastruktur ("Zukunftsausgaben"),
- Strukturreformen wie Verbesserung von Anreizen, intensiveren Wettbewerb und Flexibilisierung,
- bessere Nutzung von bestehenden Stärken in bestimmten Technologien und Dienstleistungen,
- bessere Nutzung der Produktivkräfte des Sozialsystems.
- Antizyklische Budgetpolitik stabilisiert nicht nur den Wirtschaftsablauf, sondern erhöht ebenfalls das
mittelfristige Wachstum.
Das WIFO entwirft in seinem Weißbuch insgesamt elf Strategieelemente – Innovation, Aus- und Weiterbildung,
Infrastruktur, Wettbewerb und Gründungsaktivität, Flexibilität und Sicherheit, Qualität des
öffentlichen Sektors, erfolgreiche Technologie- und Dienstleistungscluster, innovative Energie- und Umweltpolitik,
Umwandlung von informeller Arbeit in Erwerbstätigkeit, Forcierung der Chancengleichheit der Geschlechter und
das Sozialsystem als Produktivkraft –, die in acht Maßnahmenpaketen umgesetzt werden sollten. Grundbedingung
für die Wirksamkeit aller Reformen sind makroökonomische Stabilität und mikroökonomische Sicherheit.
Die Reformen müssen inhaltlich aufeinander abgestimmt und sozial ausgewogen sein. Nur dann kann die Bevölkerung
die Chancen einer solchen Politik erkennen, nur dann wird sie bereit sein, auf bestehende Rechte zu verzichten
und Besitzstände aufzugeben, weil in der Zukunft höhere, nachhaltigere Einkommen und genügend Arbeitsplätze
zu erwarten sind.
Es gibt keine einzelne Maßnahme, auch kein Bündel von einigen wenigen Maßnahmen, um die Arbeitslosigkeit
deutlich und dauerhaft zu senken. Eine intensive, aber kurzfristige wirtschaftspolitische Offensive ist nicht zu
empfehlen, weil jede Maßnahme nur langsam wirkt und nach ihrem Auslaufen oft Gegenkräfte auftreten (z.
B. Konsolidierungsbedarf in den öffentlichen Haushalten). Nur eine langfristige Strategie mit einander verstärkenden
Elementen aus allen Bereichen der Wirtschaftspolitik, unterstützt von gesellschaftlichem Konsens, kann Wachstum
und Beschäftigung nachhaltig erhöhen.
Das Weißbuch schlägt vor: Acht zielorientierte Pakete
Die elf Strategieelemente müssen von allen Teilen der Politik initiiert, von allen Trägern der Wirtschaftspolitik
akzeptiert und in Konsum- und Investitionsentscheidungen umgesetzt werden. Sie haben Konsequenzen für die
Entscheidung über Arbeitseinsatz, für Ausbildung und Weiterbildung, und zwar für alle Erwerbstätigen
wie auch für jene, die noch nicht oder nicht mehr erwerbstätig sind.
Jedes der acht Paket hat ein klares Ziel, das einfach zu kommunizieren ist und zu dessen Umsetzung Maßnahmen
aus mehreren oder allen Strategieelementen ergriffen werden müssen. Die Kompetenz für jedes Paket geht
über ein Ministerium oder eine Institution hinaus. Wenn keine Hauptkompetenz gegeben ist, sollte eine "paketverantwortliche"
Person oder Institution mit der Umsetzung betraut werden.
Das Beschäftigungspaket soll rasch Arbeitsplätze schaffen, Arbeitslose in den Arbeitsmarkt eingliedern.
Dafür wird vorübergehend eine Stützung des Niedriglohnsektors in Kauf genommen. Dies kann durch
Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für niedrige Einkommen, steuerliche Absetzbarkeit privater Dienstleistungen,
einen Beschäftigungsgutschein für Langzeitarbeitslose geschehen. Eine Beschleunigung von Infrastrukturprojekten
(Lückenschließung) für den Fall eines Konjunktureinbruchs sollte vorgeplant werden.
Das Nachfragestimulierungspaket soll der mittelfristigen Schwäche der Inlandsnachfrage entgegenwirken. Es
enthält Impulse für Bezieher und Bezieherinnen niedriger Einkommen und eine Einschränkung der Sparförderung
für Personen mit höherem Einkommen. Spezielle Investitionen mit gesellschaftlichem Zusatznutzen werden
durch eine Investitionsprämie gefördert: Energiesparen, Umweltinvestitionen, Breitbandtechnologien, Teleworking,
Software.
Eine Produktivitätsoffensive soll Österreich auf den höheren Wachstumspfad bringen und die Umstellung
von der Aufholstrategie zur Front-Position beschleunigen. Maßnahmen aus der Innovationsstrategie, die Umstellung
des Bildungssystems, Technologieschwerpunkte und Impulse durch öffentliche Beschaffung werden gebündelt.
Das Mobilisierungspaket soll Flexibilität und Wettbewerb steigern. Das Potential der kleinen und mittleren
Betriebe wird stärker genutzt. Gründungen erfolgen schneller, unbürokratischer und billiger. Das
technologische Niveau der Betriebe soll gehoben und das Wachstum beschleunigt werden. Sicherheit und Flexibilität
können einander gegenseitig stützen. Die öffentliche Hand übernimmt die Sozialversicherungskosten
für die erste Vollzeitarbeitskraft eines Unternehmens für ein Jahr. Übergangsarbeitsmärkte
erleichtern den Umstieg zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit, zwischen Vollzeit- und Teilzeitarbeit. Sie
sollen mit Sozialleistungen verbunden sein.
Die Qualifizierungsoffensive bündelt kurz- und mittelfristige Reformen im Aus- und Weiterbildungssystem. Sie
nutzt Synergien mit der Innovationsstrategie, nutzt und verändert die immaterielle Infrastruktur. Technologien
und hochwertige Dienstleistungen mit österreichischen Stärken werden entwickelt und exportiert.
Das Integrationspaket lenkt vorausblickend die Migration in höherqualifizierte Bereiche. Es bezieht Migranten
und Migrantinnen in Schulorganisation, Weiterbildung und den politischen Entscheidungsprozess insgesamt stärker
ein. Ausbildungsdefizite sollen verhindert oder verringert werden.
Das Energie- und Umweltpaket macht Umweltpolitik zur Querschnittsmaterie. Es nutzt das Steuersystem und weitere
marktwirtschaftliche Instrumente zur Reduktion der Emissionen. Der Einsatz alternativer Kraftstoffe und Energiequellen
wird forciert. Umwelttechnologie, Steigerung der Energieeffizienz und der Einsatz alternativer Energieträger
werden in Technologiepolitik, Setzung von Standards und öffentlicher Beschaffung verstärkt. Die gute
Position Österreichs in der Umwelttechnologie und im Bereich der alternativen Energieträger wird für
Beschäftigung und Export genutzt.
Das Dienstleistungs- und Exportpaket entwirft Strategien für erfolgreiche und chancenreiche Dienstleistungen.
Es bündelt Maßnahmen für den ländlichen Raum, für wissensbasierte Dienstleistungen, für
hochwertigen Tourismus. Es forciert den Export, besonders jenen in Schwerpunktländer und besonders die Schnittstelle,
an der Waren und Dienstleistungsexporte kombiniert werden.
Drei Phasen mit unterschiedlichen Erfordernissen
Das Weißbuch empfiehlt eine Dreiphasenstrategie. In der Kick-off- Periode – 2007 bis 2009 – ist eine Doppelstrategie
nötig. Die Verfestigung der Arbeitslosigkeit muss durchbrochen, Jugendliche und Ältere verstärkt
in den Arbeitsprozess einbezogen werden. Ein Niedriglohnsektor soll und kann zeitlich befristet organisiert bzw.
gehalten werden, teilweise auch um Arbeitsplätze aus der Familie und aus dem Schwarzmarktsektor in die offizielle
Wirtschaft überzuführen. Übergangsarbeitsmärkte können einen positiven Beitrag liefern,
sollen aber gleichzeitig mit einem Ausbildungsangebot und einer Perspektive für spätere Vollzeitarbeit
verbunden werden. Gleichzeitig muss in die Zukunft investiert werden, um den Wachstumspfad zu heben. Die Neupositionierung
Österreichs im höchsten Qualitäts- und Technologiesegment und im Bereich moderner Dienstleistungen
soll vorbereitet werden.
Hält die derzeit gute Konjunktur an, dann muss die nötige Finanzierung aus Umschichtungen der Ausgaben,
Verwaltungsreform, Einsparungen und Subventionskürzungen kommen. Nur ein Teil der konjunkturbedingten Mehreinnahmen
sollte für die Wachstumsstrategie genutzt werden, der andere für Schuldenrückzahlung. Bei einer
Konjunkturabschwächung kann das angestrebte Nulldefizit hinausgeschoben werden, sofern durch Zukunftsausgaben
der Wachstumspfad gehoben wird.
In der Strukturperiode (2010 bi s 2015) muss die Positionierung Österreichs im höchsten Qualitätssegment
von Waren und Dienstleistungen erreicht werden. Die Integration der Migrantinnen und Migranten und ihre Weiterbildung
müssen forciert werden, Österreich muss attraktiv für hochqualifizierte Arbeitskräfte sein,
im Niedriglohnsektor sollen die Weichen auf Abbau und Höherqualifikation gestellt sein. Eine quantitative
Ausweitung des Arbeitskräfteangebotes ist noch nicht nötig, sollte aber schon vorbereitet werden. Vollbeschäftigung
ist noch nicht (oder erst gegen Ende der Periode) erreichbar.
In der High-Tech-Periode etwa ab 2015 soll die Erwerbsquote (und die Immigration von qualifizierten Arbeitskräften)
mit zusätzlichen Maßnahmen erhöht werden. Technischer Forschritt und Qualifikationsverbesserungen
werden die wichtigsten Quellen des Wachstums sein. Österreich muss im oberen Segment der mittleren Technologiestufe
und in der Hochtechnologie positioniert sein, ebenso bei wissensintensiven Dienstleistungen und Problemlösungen.
Nur wenn diese Perspektive schon in den ersten beiden Phasen mitgedacht wird, werden Fehlentscheidungen vermieden.
Insgesamt gehen die Vorschläge des WIFO-Weißbuches weit über die unmittelbare Finanzierbarkeit
hinaus, besonders wenn man festhält, dass es in der spezifisch österreichischen Lage (Mitte und Kante
Europas) sinnvoll wäre, wegen des künftigen Handlungsspielraums keine höhere Steuer- und Abgabenquote
als die Konkurrenten mit gleichem Einkommensniveau zu haben. Eine Finanzierung der Zusatzausgaben oder der Kürzungen
von Steuern und Sozialbeiträgen ist möglich über
- eine Verschiebung des Zeitpunktes der nächsten Steuerreform,
- eine zusätzliche Phase der Verwaltungsreform,
- Verlagerung der Prioritäten innerhalb der öffentlichen Haushalte,
- zusätzliche Privatisierungen (vor allem in den Ländern und Gemeinden),
- Mobilisierung privaten Vermögens für Forschung und Sozialanliegen.
Die derzeit gute Konjunkturlage und die Erwartung, dass Europa seine Wachstumsschwäche überwinden kann,
sollten auch zusätzliche Mittel erbringen. Letztlich finanziert sich ein Teil der Maßnahmen durch das
erhöhte Wachstum selbst. Deswegen ist es wichtig, dass die Strategie konsensual durchgeführt wird, damit
sie durchgehalten werden kann, bis dieser Wachstumseffekt und die finanzielle Entlastung eintreten und nicht wirtschaftliche
Unsicherheit während der Durchführung die Effekte mindert.
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