Persönliche Reflexionen über die Ziele europäischer Sicherheitspolitik

Sektionschef Hon.Prof. DDr. Erich Reiter (Beauftragter für Strategische Studien und Leiter des Büros für Sicherheitspolitik im Bundesministerium für Landesverteidigung)

Die Europäische Union hat ihre sicherheitspolitischen Interessen im Artikel 11 Absatz 1 des EU-Vertrages selbst festgelegt. Es geht um die Wahrung gemeinsamer Werte, um die Unversehrtheit und die Stärkung der Sicherheit der Union, die Wahrung des Friedens und die Stärkung der internationalen Sicherheit im Sinne der Vereinten Nationen, Förderung der internationalen Zusammenarbeit, Entwicklung und Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Wie diese Interessen verfolgt werden sollen, ist offen. Was bedeutet die Stärkung der Grund- und Freiheitsrechte? Gilt das global? Sollte die EU bereit sein, diese Rechte auch durch Einsatz von Gewaltmitteln zu schützen? Sollte die EU in ihrer Zusammenarbeit mit anderen Staaten demokratische bzw. rechtsstaatlich organisierte Länder bevorzugen und andere sanktionieren?

Die EU ist zur Verwirklichung von Zielsetzungen ebenso auf die solidarische Mitwirkung ihrer Mitglieder angewiesen, wie umgekehrt die Mitglieder ihre sicherheitspolitischen Interessen und Ziele oft nicht mehr im Alleingang realisieren können. Das Problem ist es freilich, den gemeinsamen Nenner zu finden. Er scheint dort am leichtesten bzw. breitesten herstellbar, wo es um den Bereich der Sicherheitspolitik im weitesten Sinne geht. So hat die EU bereits verschiedene Strategien im Sinne der Stärkung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und leistungsfähigen Wirtschaftsordnungen entwickelt, zum Beispiel eine „Gemeinsame Strategie für Russland“ oder den „Barcelona-Prozess“ hinsichtlich der südlichen Mittelmeeranrainer. Solche Strategien können, wenn sie richtig angelegt sind und auch dann entsprechend umgesetzt werden, zur Verbesserung der internationalen Situation beitragen. Aber es ist durchaus strittig, ob diese Strategien alle zielführend sind.

Gut gemeinte Politik kann durchaus zu negativen Ergebnissen führen. Man weiß eben erst nachher, wie sich eine bestimmte Politik ausgewirkt hat. Auch aus den Wirtschaftswissenschaften gibt es Beispiele, die die Skepsis gegenüber dem Erfolg umfassender politischer Strategien stärken. Das entbindet die EU freilich nicht davon, auch weiterhin Strategien im Sinne ihrer Zielsetzungen zu entwickeln und umzusetzen. Man muss sich nur bewusst sein, dass die Zielerreichung nicht garantiert, sondern im Gegensatz sehr fraglich sein kann, woraus folgert, dass politische Strategien zur Stabilisierung noch keineswegs ausreichen müssen, um tatsächlich stabilisierende Wirkungen zu erzielen. All die schönen Zielsetzungen, wie sie heute in der Sicherheitspolitik moderner Doktrinen dargestellt werden, garantieren noch lange keine sichere Welt. Solche politisch-strategischen Zielsetzungen sind zum Beispiel:

  • Stärkung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit
  • Stärkung marktwirtschaftlicher Ordnungen
  • Ausgleich des Wohlstandsgefälles durch Entwicklungszusammenarbeit
  • Stärkung der internationalen Kooperation
  • Umfassende Förderung von Stabilität und Sicherheit
  • Verhinderung des Entstehens und der Eskalation von Konflikten aus ethnischen oder religiösen Spannungen
  • Bekämpfung von transnationaler Kriminalität und des Terrorismus
  • Erhaltung einer lebenswerten Umwelt usw. Unterstützung der internationalen Organisationen.

All das ist richtig und gut. Nachhaltigen Sinn ergeben Strategien zu solchen Zielsetzungen meist aber erst dann, wenn sie durch machtpolitische Möglichkeiten unterstützt werden. Das ist insbesondere der Aufbau ausreichender militärischer Ressourcen, die nicht nur zu einer Abhalte- oder Abschreckungswirkung gegenüber potenziellen Angreifern oder gegen Erpressungen von Problemstaaten befähigen; sie müssen auch militärische Interventionsfähigkeit zur Beendigung von ausgebrochenen Konflikten beinhalten. In einer zusammenwachsenden Welt wird es auch zunehmend erforderlich, globale Wirksamkeit zu haben und nicht nur im engsten Umkreis Europas wirksam sein zu können.

Einer sich selbst ernst nehmenden EU muss deshalb dringend angeraten werden, einerseits ein strategisches Raketenabwehrsystem aufzubauen um den geänderten Bedingungen im Bereich strategischer Möglichkeiten auf dem Gebiet von Nuklearwaffen- und Trägermitteln Rechung zu tragen. Sie muss andererseits eine Interventionsstreitmacht mit ausreichenden logistischen Fähigkeiten aufbauen, die deutlich über das in der ESVP Vorgesehene hinausgeht. Sie muss schließlich im Bereich der modernen Kriegsführung zumindest im gewissen Maße ihren Rückstand gegenüber den USA vermindern, um im Stande zu sein, gemeinsam mit Amerika Operationen durchführen zu können – und damit ein ernstzunehmender Partner der in der Weltpolitik den Ton angebenden USA zu sein.

Wenngleich es auf den ersten Blick geboten schiene, zu diesem Zweck die Verteidigungsbudgets der europäischen Länder entscheidend anzuheben, so stimme ich doch mit jenen Analytikern überein, die meinen, dass prinzipiell sogar mit den vorhandenen finanziellen Ressourcen das Auslangen dafür gefunden werden kann, wenn es zu einer Konzentration der europäischen Verteidigungspolitik auf die EU kommt und die Synergieeffekte voll ausgenutzt werden. Verteidigungspolitik muss also – zumindest teilweise – aus den Mitgliedsstaaten in die EU hinein verlagert werden. Zumindest hinsichtlich der strategischen Komponenten, die vorher aufgezählt wurden. Hingegen können die traditionellen militärischen Fähigkeiten im Bereich der Territorialverteidigung bei den Mitgliedsländern verbleiben, die sich je nach ihrer Befindlichkeit zusätzlich zu den strategischen Elementen größere oder kleinere Streitkräfte traditioneller Art leisten und sich auch das Wehrsystem selbstständig dafür aussuchen könnten. Die europäischen Nuklearwaffen, strategischen Raketenstreitkräfte, die strategische Luftwaffe, das strategische Raketenabwehrsystem und die hochseegängige Flotte, der Bereich strategischer Aufklärung und Kommunikation sowie Logistik gehörten aber direkt der EU zugeordnet.

Der Weg dahin könnte so verlaufen, dass zuerst die einzelnen Mitgliedsländer Teile ihrer Streitkräfte direkt der EU unterstellen. Nach einer Übergangsphase „mutieren“ diese Kontingente von nationalen Kontingenten zu einer europäischen Streitkraft und unterliegen dann ausschließlich der Befehlsgewalt der europäischen Führung. Die Mitgliedsländer leisten einen finanziellen Beitrag zum Unterhalt und zum Ausbau der strategischen europäischen Streitkräfte. Zum Beispiel ein Prozent des Brutto-Inlands-Produktes. Den restlichen Aufwand für die Streitkräfte behalten sie für ihre unter nationaler Verfügung bleibenden Territorialstreitkräfte bzw. für spezielle Aufgaben wie Küstenschutz usw.

Wegen der besonderen Problematik die die Schaffung gemeinsamer europäischer Nuklearstreitkräfte beinhaltet, weil sich vermutlich weder die beiden europäischen Nuklearmächte gerne von den ihren trennen und andererseits auch eine ganze Reihe von Ländern auf dieses Thema nicht vorbereitet ist und sich schwer tut, Mitverantwortung für Nuklearstreitkräfte zu tragen, so könnte dieser Bereich für eine längere Übergangsfrist ausgeklammert werden.

Die Europäer werden durch ihr faktisches Verhalten (und nicht durch ihre Rhetorik) darüber
entscheiden, ob unser langsam aber beständig an Gewicht verlierender Kontinent auch in Zukunft noch eine gewisse Bedeutung in der Welt haben wird.

Siehe dazu: 25 Armeen oder eine? Die Einstellung der Österreicher zu einer gemeinsamen Europäischen Armee >>>

 
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