Stellungnahme der Regierung der Bundesrepublik Deutschland
im Verfahren zur Prüfung der Umweltverträglichkeit des Atomkraftwerks Temelín,
Tschechische Republik, in Durchführung des Protokolls der Verhandlungen zwischen den Regierungen der Tschechischen
Republik und der Republik Österreich, geführt von Ministerpräsident Zeman und Bundeskanzler Schüssel
im Beisein von EU-Kommissar Verheugen vom 12. Dezember 2000 ("Protokoll von Melk")
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Die Regierungen der Tschechischen Republik und der Republik Österreich haben im Abschnitt V. "Umweltverträglichkeitsprüfung"
des Protokolls von Melk vereinbart, dass die tschechischen Behörden umfassende Umweltverträglichkeitsprüfung
des gesamten AKW Temelín unter vollständiger Berücksichtigung der bisher erfolgten Expertentätigkeit
durchführen werden. Die Vorgangsweise im Rahmen dieser UVP werde insbesondere im Hinblick auf die Teilnahme
von Nachbarländern durch die Ratsrichtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten
öffentlichen und privaten Projekten (Richtlinie des Rates Nr. 85/337/EWG, geändert durch die Richtlinie
des Rates Nr. 97/11/EG) bestimmt. Die Dokumentation, die für dieses Verfahren der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht werden solle, werde Informationen zur Projektdokumentation und anderen Referenzdokumenten in dem Maße
enthalten, in dem sie zum Verständnis und zur Beurteilung der Schlussfolgerungen der Umweltverträglichkeitsdokumentation
unter Einhaltung des europäischen Standards einschließlich der Kriterien betreffend Betriebsgeheimnisse
beitragen.
In Abschnitt VI. des Protokolls von Melk haben die Parteien weiterhin vereinbart, dass der kommerzielle Betrieb
des AKW Temelín erst nach Abschluss der Untersuchungen in den Bereichen Nukleare Sicherheit und Umweltverträglichkeitsprüfung
aufgenommen werde. Sie kamen überein, diesen Prozess bis Ende Mai/Anfang Juni 2001 abzuschließen.
Zur Durchführung der Umweltverträglichkeitsprüfung entsprechend dem Protokoll von Melk hat die tschechische
Regierung am 17. Januar 2001 einen Beschluss gefasst, mit dem eine Expertenkommission mit der Durchführung
dieser UVP beauftragt wird. Auf Einladung der tschechischen Regierung nahmen deutsche Experten des Bundesamts für
Strahlenschutz und der Gesellschaft für Reaktor- und Anlagensicherheit als Beobachter an den Arbeiten der
Kommission teil. Die Kommission hat auf der Grundlage einer Betreiberdokumentation einen zusammenfassenden Bericht
als Unterlage für die öffentliche Anhörung in der Tschechischen Republik und in den Nachbarländern
erstellt. Dieser Bericht sowie ein weiterer Bericht über "Prinzipien und Methoden zur Festlegung der
Zonen der Katastrophenschutzplanung für das KKW Temelín einschließlich der Bewertung der Folgen
von Auslegungsstörfall und überschreitenden Unfällen und schweren Unfällen" waren dem
BMU durch die tschechische Expertenkommission am 20. April in englischer Sprache zugestellt und nach Übersetzung
ins Deutsche ab dem 26. April 2001 zunächst durch Veröffentlichung im Internet und sodann durch öffentliche
Auslegung bei den zuständigen Behörden in der in erster Linie betroffenen bayerischen Grenzregion öffentlich
bekannt gemacht worden. Die ursprünglich bis zum 11. Mai 2001 begrenzte Äußerungsfrist für
Stellungnahmen aus der deutschen Öffentlichkeit wurde mehrfach, zuletzt bis zum 20. Juni 2001, verlängert.
Ergänzende Unterlagen wurden der deutschen Seite durch das Umweltbundesamt Wien am 6. Juni 2001 zur Verfügung
gestellt und auf dem gleichen Wege in Deutschland veröffentlicht.
II.
Gestützt auf das Protokoll von Melk in Verbindung mit Art. 7 der Richtlinie des Rates Nr. 85/337/EWG, geändert
durch die Richtlinie des Rates Nr. 97/11/EG, nimmt das Bundesumweltministerium für die Regierung der Bundesrepublik
Deutschland zur Umweltverträglichkeit des Atomkraftwerks Temelín auf der Grundlage der von der Expertenkommission
übermittelten Berichte sowie unter Heranziehung weiterer Unterlagen wie folgt Stellung:
1.Die Bundesregierung anerkennt das Recht, der Regierung der
Tschechischen Republik, über die Nutzung der Kernenergie zur
Stromerzeugung in der Tschechischen Republik zu entscheiden.
Gleichwohl ist die Errichtung und Inbetriebnahme eines neuen
Atomkraftwerks nur 60 km von der deutschen Grenze ein Grund für die
besondere Besorgnis und Aufmerksamkeit der Bundesregierung . Ihre
Haltung wird von den Bürgern in der betroffenen Region geteilt, wie u.a.
viele Einzelgaben und Unterschriftenlisten dokumentieren. |
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2.Unabhängig von generellen Risiken, die mit der Nutzung der Atomkraft
verbunden sind, sieht die Bundesregierung trotz des von Experten u.a. auch
im WENRA-Bericht festgestellten hohen Maßes an Sicherheit bei dem
Atomkraftwerk Temelín Defizite, die einer Genehmigung des
Atomkraftwerks nach deutschem Recht und nach internatio-nalen
Standards entgegenstehen :
2.1 Auslegungsbereich
2.1.1
Die Vorsorge gegen Folgeschäden infolge von Brüchen der unter hohem
Druck stehenden Frischdampf- und Speisewasserleitungen auf der
28,8-m-Bühne ist nicht ausreichend getroffen bzw. nachgewiesen.
2.1.2
Die Funktion der Frischdampfabblase- und Sicherheitsventile bei
Störfallabläufen, die zu einer Wasserbeaufschlagung der Ventile führen, ist
für die in Temelin eingesetzten technischen Ausführungen und
Gegebenheiten nicht ausreichend nachgewiesen.
2.2 Behandlung auslegungsüberschreitender Anlagenzustände
Jenseits der Grenzen der für Temelin realisierten sicherheitstechnischen
Auslegung verbleiben - wie generell bei Kernkraftwerken - denkbare aber
ungewisse Möglichkeiten von Unfällen mit schweren radiologischen
Folgen. Zur Vorsorge gegen solche für die Umwelt besonders gravierenden
und langfristigen Schadensfolgen werden heute für neue Anlagen
zusätzliche Auslegungsmaßnahmen gefordert. Für bestehende Anlagen
wird über den Nachweis ausreichender Zuverlässigkeit und
Ausgewogenheit der zur Unfallverhinderung getroffen Maßnahmen
zusätzlich eine Analyse der Verletzlichkeit des Sicherheitseinschlusses
oder direkt die Einführung geeigneter Anlagenänderungen bzw.
anlageninterne Notfallschutzmaßnahmen gefordert. Dieser zuletzt genannte
Ansatz wird auch bei Temelin verfolgt. Die Bundesregierung hält allerdings
die getroffenen Maßnahmen für nicht ausreichend:
2.2.1 Die zur Verletzlichkeit des Containments durchgeführten Analysen
bleiben in ihrer Aussagekraft hinter dem Methodenstand zurück, mit dem
heute diese Fragen wesentlich differenzierter und damit auch belastbarer
untersucht und bewertet werden.
2.2.2 Verschiedene Gefährdungs- und Versagensmechanismen wurden
noch nicht untersucht oder es wurden nur erste Überlegungen
vorgenommen. Es ist nicht ausreichend ausgeschlossen, dass
entsprechende Untersuchungen nicht zur Erkenntnis höherer Risiken
führen.
2.2.3 Hinsichtlich der analysierten Gefährdungsmechanismen zum
Containmentversagen infolge eines Schmelzeangriffs unterhalb der
Reaktorgrube oder infolge Freisetzung insbesondere nichtkondensierbarer
Gase lassen die bisherigen Kenntnisse Zweifel an den hierzu
durchgeführten Analysen und erzielten Ergebnissen entstehen. Die
Analysen für den Erhalt der langzeitigen Containment-Integrität sind nicht
ausreichend.
2.3 Notfallschutz in der Umgebung
Zur Nutzung der bisher durchgeführten Unfallablaufanalysen für Zwecke
des Notfallschutzes in der Umgebung ist kritisch anzumerken:
2.3.1 Die zugrunde gelegten Kriterien (höchster Quellterm, kürzester
Freisetzungszeitpunkt nach Ereigniseintritt und höchste erwartete
Eintrittswahrscheinlichkeit) für die Auswahl der beiden Referenzszenarien
zur Festlegung der EPZ wurden nur unzureichend im Hinblick auf die
Anforderungen des Katastrophenschutzes gewichtet.
2.3.2 Belastbare Nachweise fehlen, die ausschließen, dass andere
Szenarien mit höheren Eintrittswahrscheinlichkeiten und ggf. späterem
Zeitpunkt der Kernzerstörung keine höheren Quellterme zu Folge haben
können als die Referenzszenarien.
In Erwägung dieser Umstände appelliert die Bundesregierung eindringlich an die Regierung der Tschechischen
Republik, ihre Entscheidung zur Inbetriebnahme des AKW Temelín aufzuheben und das Atomkraftwerk stillzulegen. |
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