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Bundeskanzler Schüssel im Interview mit dem "Kurier"

"Kurier" vom 14.07.2002 Seite: 3 Ressort: Innenpolitik

Das Kanzler-Gespräch vor der Sommerpause: Wolfgang Schüssel über die Erfolge und die Probleme der Regierungsarbeit - und über sein Ziel für die Nationalratswahlen

"Wir wollen Erster werden"
von Christoph Kotanko und Margaretha Kopeinig

Das Werk heißt "Bergwärts". Im August erscheint im Styria-Verlag die Beschreibung von 50 Touren mit dem Kanzler, aufgezeichnet von seinem Salzburger Berggefährten Albert Steidl. Abbildungen und Karikaturen: Wolfgang Schüssel.

Bei den nächsten Nationalratswahlen will Schüssel die ÖVP in lichte Höhen führen - an die erste Stelle vor der SPÖ. Auf diesem Platz war sie zuletzt im fernen Jahr 1966.

Kurier: Herr Bundeskanzler, die Politik in der letzten Parlamentswoche vor der Sommerpause war von den Fällen Gaugg und Stadler bestimmt. Wie sehr stört es Sie, dass solche Themen die Regierungsarbeit überlagern?

Schüssel: Es wundert mich, dass wir in Österreich noch immer nicht die Balance zwischen einer richtigen Bewertung einer Sonnwendfeier-Rede eines Herrn Stadler und der innenpolitischen Tagesordnung der letzten Monate gefunden haben. In Wirklichkeit hätte man sagen müssen: Herr Volksanwalt, lernen Sie Geschichte! Wie kommen die Österreicher dazu, sich ununterbrochen mit Inhalten beschäftigen zu müssen, die ohnehin jeder kennt: Dass Österreich 1945 befreit wurde, der 8. Mai 1945 ein Tag der Freude war. Natürlich darf man nicht den Eindruck erwecken, es hätte nach 1945 keine Übergriffe, keine Plünderungen oder Vergewaltigungen gegeben.

Kurier: Sie haben die Erwartung geäußert, dass sich FPÖ-Volksanwalt Stadler dem Grundkonsens der Republik anschließt. Diese Hoffnung wurde enttäuscht.

Schüssel: Stadler hat zuerst eine gewisse Korrektur vorgenommen und dann wieder einen absoluten Schritt zurück. Er ist nicht einer, dem das passiert ist. Er ist Wiederholungstäter. Es gibt eine kleine Gruppe, die das immer wieder anspricht. Irgend einmal sollte man gegen diese Provokationen immun sein. Die Bundesregierung gibt jedes Jahr eine Erklärung über die Befreiung Österreichs ab. Muss man sich immer wiederholen, wenn einer seine Lektion nicht gelernt hat?

Kurier: In Brüssel ist man besorgt, weil der FP-Volksanwalt auch meint, Österreich sei durch den EU-Beitritt seiner Souveränität beraubt worden.

Schüssel: In der Demokratie ist keiner gezwungen, das Richtige zu erkennen. Es ist skurril, dass in der Geschichte des EU-Beitritts die FPÖ ursprünglich die pro-europäischste Partei war. Vor dem Referendum 1994 ist der Grüne Voggenhuber als Agitator aufgetreten und hat auch den Schwachsinn geäußert, dass Österreich durch die EU seine Souveränität verlieren würde. Dann stimmte das Volk mit Zweidrittelmehrheit für den Beitritt, damit war die Sache entschieden.

Kurier: Muss man nicht bei einem Volksanwalt strengere Maßstäbe als bei anderen Politikern anlegen?

Schüssel: Das sollte man auch bei EU-Abgeordneten tun. Ich bin nicht der Korrektor für die Unsinnigkeiten, die Hans-Peter Martin (Mitglied der SP-Fraktion im EU-Parlament, Anm.) da und dort von sich gegeben hat. Oder Voggenhuber - er verdächtigt den Rat, das schwarze Loch der Demokratie zu sein. Ich kann nur sagen, es ist ein Glück, dass weder Herr Martin, Herr Voggenhuber noch Herr Stadler in europäischen Angelegenheiten ein Wort zu melden haben. Zum Glück ist das den Profis überlassen.

Kurier: Sie haben bei einer Rede beim Münchner CSU-Parteitag Realismus bei der EU-Erweiterung verlangt. Was halten Sie für realistisch?

Schüssel: Man muss bei Verhandlungen aufeinander zugehen. Ich habe immer dafür plädiert, dass man sensible, nationale Anliegen ernst nimmt. Für Österreich sind das: Transit, die nukleare Sicherheit und der Arbeitsmarkt.

Kurier: Und die Benes-Dekrete?

Schüssel: Von einer neuen tschechischen Regierung kann man nicht erwarten, dass sie sich um 180 Grad dreht. Es geht um vertrauensbildende Maßnahmen, um den Dialog. Ich verstehe, dass ein Staat seine Grundlagen nicht aufgeben kann oder ein Drittel des Landes zurückgeben wird. In der europäischen Familie erwarten wir jedoch ein klares Signal - wie nach den Balkankriegen, als ethnische Säuberungen und Vertreibungen verurteilt wurden.

 
Kurier: Die Prager Regierung hat bekräftigt, über die Benes-Dekrete werde nicht verhandelt. Österreich will eine gemeinsame Erklärung, eine Entschuldigung und eine symbolische materielle Geste.

Schüssel: Die Lösung muss gemeinsam erarbeitet werden. Man kann die Bedingungen für einen solchen Prozess definieren. Die Bedingung auf meiner Seite kann nicht sein, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Das Ergebnis eines Dialogs kann auch nicht sein, das alles so bleibt wie es ist. Wir müssen aufhören, einander ins Gesicht zu schreien. Aber die Entwicklung dorthin braucht Zeit und Ruhe.

Kurier: Ein Thema der Erweiterungs-Verhandlungen sind die Kosten. Deutschland will seine Nettozahler-Position verbessern. Österreich auch?

Schüssel: Durch die Erweiterung können wir die Position nicht verbessern, bis 2006 gibt es einen Finanzplan. Danach kommen neue Spielregeln. Ich bin mit den Deutschen einer Meinung, dass es nach dem Jahr 2006 keine Verschlechterung geben darf.

Kurier: Zurück zur Innenpolitik: Sie haben vor Monaten die Gesundheitspolitik als wahlentscheidend bezeichnet, jetzt ist dort manches schief gelaufen. So will die Ärztekammer die Einhebung der Gebühr für die Chip-Card boykottieren.

Schüssel: Ich bin neugierig, ob wirklich eine Gruppe einen Gesetzesauftrag boykottiert. Wir können uns nicht erpressen lassen. Die Frage, ob man im bescheidenen Ausmaß eine Ersatzlösung für die Krankenscheingebühr einhebt, ist geklärt.

Kurier: Die Ärzte sagen bei der Chip-Card Probleme wie bei der Ambulanzgebühr voraus.

Schüssel: Die Ambulanzgebühr ist mittlerweile akzeptiert. Niemand kann verlangen, eine Belastung der Versicherten durch Beitragserhöhungen zu erzwingen. Deutschland, das die Kassenbeiträge erhöht hat, hat jetzt auch einen höheren Verlust. Ein Beispiel, wie man die gesundheitspolitische Debatte nicht führen sollte. Die Chip-Card ist ein Modernisierungsschub für die Gesundheitsverwaltung.

Kurier: Was möchten Sie im letzten Jahr dieser Legislaturperiode noch erledigen?

Schüssel: Wir haben die volle Zeit der Ernte. Was jetzt kommt, ist die Finalisierung der Verwaltungsreform; ein massiver Einsatz des Internet, das eGovernment steht bevor. Über den Sommer wird das Budget 2003 verhandelt. Und es wird an einer Entlastung der Steuerzahler gearbeitet.

Kurier: Ihr Wahlziel 2003?

Schüssel: Ich will mich mit einer guten Leistungsbilanz hinstellen und sagen, wir haben Österreich in diesen vier Jahren zum Positiven verändert, wir stehen heute stärker da als 1999. Wir haben mehr Arbeitsplätze, höhere Einkommen, liberalere Arbeitsbedingungen, ein besseres Ausbildungssystem. Im Sozialbereich gibt es die Abfertigung-neu, das Kindergeld und die Familienhospiz-Karenz. Wir haben massive Entlastungen im Energie- und Telekommunikationsbereich durchgesetzt und die Medienlandschaft reformiert. Mit dieser Bilanz werden wir uns hinstellen und sagen: Wir von der Volkspartei wollen die Stärksten werden.

Kurier: Das ist zuletzt 1966 gelungen, ab 1970 war immer die SPÖ voran. Sie führt auch jetzt in allen Umfragen.

Schüssel: Wir wollen die stärkste Partei werden. Warum nicht?