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Politische Gespräche in Alpbach: „Europa, Russland, USA“
Rede von Bundeskanzler Dr. Wolfgang Schüssel
Alpbach/Wien (bpd) - Wie facettenreich das Beziehungsgeflecht zwischen Europa, Russland und den USA ist, zeigten schon einige Gedanken im Grundsatzreferat Peter Sloterdijks zum Auftakt des diesjährigen Forums Alpbach. Wir könnten allein über seine Bemerkungen den ganzen Vormittag diskutieren und würden dem Thema doch nicht gerecht werden.

Dennoch reißt seine bewusste – um nicht zu sagen provokante – Zuspitzung die zentralen Fragen dieses wenigstens für Europa und sein Selbstverständnis elementaren Verhältnisses auf. Ist das europäische Projekt wirklich nur ein „Langzeit-Experiment zur Erzeugung von Wohlstand“, das auch in zwei Nebenlabors – gescheitert in der früheren Sowjetunion, bereits übertroffen in den USA – in Angriff genommen wurde? Kann man – wie Sloterdijk – die Weltmachtstellung der USA politikgeschichtlich in die Serie der „Reichsübertragungen“ einordnen?

Als europäischer Regierungschef liegt der Schwerpunkt meines Interesses notwendigerweise auf Gegenwart und Zukunft des Verhältnisses, speziell auf den Gestaltungsmöglichkeiten. Dennoch hat die historische Dimension eine wichtige Bedeutung, weil sie die Psychologie des Verhältnisses Europas, Russlands und der USA zueinander wesentlich bestimmt. Die europäische Identität wird auch – und im Außenverhältnis vor allem – an diesem Verhältnis gemessen werden. Und man muss nicht gleich die „Reichsidee“ strapazieren, um die Problematik dieser äußeren Identität Europas – die natürlich mit ihrer inneren Verfasstheit korreliert, aber sicher auch bewusst geschaffen werden muss – zu erfassen. Ich möchte gleich zu Beginn ganz eindeutig festhalten, dass es keine vernünftige Alternative zu einer intensiven Zusammenarbeit und echten Partnerschaft gibt, jedenfalls aus der Perspektive eines mitteleuropäischen EU-Mitgliedstaates. Auch ich werde im Laufe meiner Ausführungen den Begriff „Europa“ in all seiner Vielschichtigkeit verwenden: geographisch und historisch-kulturell ebenso wie stellvertretend für die künftige Gestalt der Europäischen Union. Die Begriffsgrenzen sind dabei häufig so schwer zu ziehen wie die Grenzen Europas selbst.

Russland war immer und unbestritten ein Teil des alten Europa. Erst das sowjetische Experiment – selbst ein Ausfluss einer zentralen europäischen Auseinandersetzung des 19. Jahrhunderts – und die Entwicklung zur anderen atomaren Supermacht nach der europäischen Selbstzerfleischung der beiden Weltkriege führte zur jahrzehntelangen Abtrennung Russlands von der europäischen Politik.

Die USA sind ihrerseits das Kind einer revolutionären europäischen Bewegung, in ihrem Fall einer bürgerlich-liberalen, republikanischen. Im Gegensatz zur  Sowjetunion, die sehr rasch zu einer Fortsetzung des Zarenreiches mit anderen Mitteln wurde, mussten die USA erst ein umfassendes Staatswesen entwickeln, von Beginn an auf der Basis demokratischer Entscheidungen, und durch den immer noch verlustreichsten Krieg ihrer Geschichte, den Sezessionskrieg Nord gegen Süd gehen, bevor sie eher gegen ihren Willen von einer Regionalmacht zu einer Weltmacht wurden.

Waren die USA seit ihrer Gründung das Gegenmodell zu den alten europäischen Großreichen, war die Sowjetunion das letzte dieser europäischen Großreiche, die der bürgerlichen Revolution und – damit untrennbar verbunden – dem Ideal des Nationalstaates zum Opfer fielen.

Die Erfolglosigkeit des amerikanischen Konzepts zur Befriedung Europas nach Ende des 1. Weltkriegs war zweifellos eine entscheidende Erfahrung die zur dauerhaften Rückkehr der USA nach Europa mit der klaren Absicht führte, eine noch weitere Expansion der Sowjetunion nach Westen zu verhindern. Wir kennen die Folgen: sowjetischerseits fürchtete man die politischen Folgen einer Expansion des westlichen Modells nach Osten mindestens ebenso wie der Westen die „Rote Gefahr“ – der Eiserne Vorhang war geboren, der Kalte Krieg wurde für Jahrzehnte zur Konstanten der Weltpolitik. Ebenso lange gab das Verhältnis der beiden Supermächte die Parameter der europäischen Politik vor. Und ich pflichte Erhard Busek bei, der in seiner Eröffnungsrede zu recht darauf hingewiesen hat, dass diese Parameter – teils unterbewusst, teils aus politischem Kalkül – noch immer weiterwirken dürfen.

Es täte der aktuellen Debatte um die Zukunft Europas sehr gut, den Mythos des europäischen Einigungsprozesses etwas sorgsamer zu handhaben: Ja, es gab schon lange vor dem 2. Weltkrieg Visionäre eines vereinigten Europa, man denke hier stellvertretend nur an die Paneuropa-Bewegung, und selbstverständlich waren auch die Gründerväter der EGKS und dann der EWG Vorkämpfer des europäischen Gedankens. Dennoch kann es keinen Zweifel daran geben, dass die europäische Einigung ohne den Kalten Krieg nicht, oder zumindest nicht in dieser Form stattgefunden hätte. Neben ihrer äußerst erfolgreichen Rolle in der Konfliktprävention zwischen den europäischen Weltkriegsgegnern hatte sie natürlich auch die Aufgabe, ein wirtschaftlich erfolgreiches Gegenmodell zum roten Osten zu werden. Die Schaffung eines breiten Wohlstandsgürtels und enger wirtschaftlicher Verflechtungen immunisierte nicht nur gegen das Wiederaufleben der historischen westeuropäischen Konflikte, sondern auch gegen die kommunistische Gefahr.

Diese Entwicklung wurde von den USA gewollt und es verwundert mich nach wie vor, dass es in Washington bis heute schwierig ist, die EU als gleichwertigen Partner in der Weltpolitik ernst zu nehmen. Aus amerikanischer – und wohl auch aus sowjetischer – Sicht war die EG in erster Linie der wirtschaftliche Arm des westlichen Bündnisses. Auch wenn die EU – im Gegensatz zur NATO - für das heutige Russland wesentlich positiver besetzt und als echter Partner attraktiv ist, steht für Moskau bei der Beurteilung des weiteren Einigungsprozesses weiterhin der Wunsch im Vordergrund, bestimmender Teil der europäischen Strukturen zu sein, und zwar wesentlich mehr aus sicherheitspolitischen Erwägungen als aus wirtschaftlichen. Ich glaube, dass es nicht nur für die heutigen EU-Mitgliedstaaten, sondern auch für die USA und Russland an der Zeit ist, sich von überholten Ansichten zu lösen. Auch wenn der Prozess noch in keiner Weise abgeschlossen ist, zeichnet sich eine echte Emanzipation Europas ab.

Wesentlich daran ist, dass sich diese Emanzipation nicht gegen irgend einen anderen Staat richtet. Die Entwicklung EU-Europas zu einer Supermacht im hergebrachten Sinn ist weder von ihren inneren Gegebenheiten her möglich noch von irgend jemandem gewollt. Sie wäre auch ein Irrweg, nach innen wie nach außen. Unbestreitbar ist jedoch, dass der EU unter den modernen Herausforderungen ihrer Größe und wirtschaftlichen Stärke entsprechend auch die Verantwortung eines „global player“ zukommt. Dieser Verantwortung muss sie gerecht werden. Ungeachtet immer noch bestehender Versuchungen für die großen EU-Staaten, über die EU hinaus oder über die gemeinsamen Positionen hinweg nationale Profilierung zu betreiben, ist heute weitgehend unbestritten, dass die Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik auch und gerade institutionell gestärkt werden muss. Ich halte diese Entwicklung für zwingend und für eine völlige Bestätigung der Erfahrung, dass wirtschaftlicher Erfolg zum Ruf nach politischer Mitbestimmung führt.

Überspitzt formuliert: Der historische amerikanische Schlachtruf „No taxation without representation“ gilt in übertragener Form auch in der Weltpolitik. Zu oft hat sich bei der Bewältigung internationaler Krisen ein Bild ergeben, wonach die USA eine Lösung in Verhandlungen oder durch Androhung oder sogar Einsatz militärischer Mittel durchgesetzt haben und der EU die Hauptlast der Finanzierung überlassen wurde. In der Nahostpolitik gilt dieses Modell seit jeher. Das ist in erster Linie nicht als Kritik an den USA zu verstehen, sondern als europäische Selbstkritik. Bisher waren wir nicht in der Lage, ähnlich glaubwürdig und effizient einzugreifen wie unsere amerikanischen Freunde.

Dass Europa heute überhaupt in der Lage ist, über seine Entwicklung in diese Richtung nachzudenken verdanken wir allerdings der Vision der Gründerväter, die schon mit den Römer Verträgen einen europäischen Anspruch erhoben haben, dem wir uns bis heute nur asymptotisch annähern. Dass es für Europa notwendig ist, über seine Entwicklung in diese Richtung nachzudenken, liegt auf der Hand. Selbst wenn Sloterdijks Beurteilung zuträfe, muss das „Langzeit-Experiment zur Erzielung von Wohlstand“ auch politisch abgesichert werden – gerade unter den Herausforderungen einer globalisierten Wirtschaft. Das ist ein mühsamer Prozess, wie wir alle wissen, aber ein Prozess, der bisher eine einzige Erfolgsgeschichte ist: wer hätte sich vor fünfzig Jahren auch nur das heutige Europa vorstellen können? Ich sehe keinen Grund, warum wir die jetzt anstehenden Aufgaben nicht genauso erfolgreich bewältigen sollten. Wer stehen bleibt, fällt zurück; der wird auch nicht nachhaltig absichern können, was er durch die Wiedervereinigung Europas und eine Stärkung der europäischen Institutionen bedroht sieht.
   
Die Bedingungen könnten für Europa besser nicht sein: nach dem blutigsten Jahrhundert der Geschichte besteht – bei allen lokalen Instabilitäten und Konfliktpotentialen – auf absehbare Zeit keine Gefahr eines großen Krieges auf europäischem Boden. Wie bereits skizziert, wird die europäische Emanzipation keinen unserer globalen Partner bedrohen. Im Gegenteil: ein Europa, das seine Verantwortung besser wahrnimmt, ist sowohl für die USA als auch für Russland wertvoller. Unsere Entscheidungsstrukturen führen nachweislich zu ausgewogenen, rational argumentierbaren Positionen. Es kann nur zum allgemeinen Vorteil sein, wenn wir rascher zu Entscheidungen kommen und diese auch wirksam umsetzen können.

Europa kann auch nicht das geringste Interesse daran haben, Politik gegen die USA oder gegen Russland zu machen. Bei allen historisch gewachsenen Unterschieden in der Betrachtung der Welt verbinden uns tiefe kulturelle Wurzeln; trotz noch so verschiedener wirtschaftlicher Voraussetzungen und bei allem Wettbewerb bestehen bereits so starke Interdependenzen, dass wir nur alle gemeinsam gewinnen oder verlieren können. Es ist für Europa also nicht nur geopolitisch sondern auch wirtschaftspolitisch essentiell, die Zusammenarbeit nach beiden Richtungen zu verbreitern und zu vertiefen. Es ist eine spannende Aufgabe: der einen Seite die USA, die letzte verbliebene Supermacht, der dominierende Faktor der globalen Finanzwirtschaft, auf der anderen Seite Russland in voller Transformation, mit allen Chancen und Problemen. Dazwischen stehen wir Europäer – mit dem alten, wenn auch nicht mehr so ganz zutreffenden Bonmot „ein wirtschaftlicher Riese, aber ein politischer Zwerg“ – auf dem Weg zu einer neuen europäischen Identität.

Rufen wir uns einige Eckdaten in Erinnerung: die USA sind flächenmäßig knapp dreimal so groß wie die EU-15, Russland mehr als fünfmal. In der EU leben rd. 378 Mio. Menschen, in den USA rd. 276 Mio. und in Russland rd. 146 Mio., das heißt pro Quadratkilometer 116 in der EU, 29 in den USA und 12 in Russland. In der Exportstatistik der WTO liegt die EU (ohne Handel zwischen EU-Partnern) mit rd. 796 Mrd. $ und einem Anteil von 18,8% auf Platz 1 vor den USA (rd. 695 Mrd. $ und 16,4%), Russland belegte im Krisenjahr 1999 Platz 13 mit rd. 74 Mrd. $ und 1,8%. Die USA sind der größte Importeur der Welt: 1.059 Mrd. $ oder 23,6%, gefolgt von der EU mit rd. 843 Mrd. $ (18,8%), während Russland mit 41 Mrd. $ oder 0,9% auf Platz 18 rangierte. Interessanter als die Globalzahlen sind aber die Verteilungen: 63,5% der Exporte aus EU-Ländern gingen an EU-Partner, 8,7% in die USA und 0,7% nach Russland. Russland exportiert – ungeachtet der absoluten Höhe – etwa sieben bis acht Mal mehr in die EU als in die USA, oder die mittel- und osteuropäischen Staaten oder nach China. Alle diese Zahlen unterstreichen einerseits die relative Bedeutung der Märkte, andererseits aber auch das noch zu realisierende Potential. So könnte ein auch wirtschaftlich starkes Russland die europäische Wirtschaft etwas weniger abhängig von konjunktur- oder wechselkursbedingten Exportschwankungen auf dem amerikanischen Markt machen, jedenfalls aber zu einem weiteren Wachstum der europäischen Wirtschaft einiges beitragen.

Wirtschaft spielt sich jedoch – allen Unkenrufen der Globalisierungsgegner zum Trotz – nicht im politikfreien Raum ab. Die Prioritäten mögen in Europa, in den USA und in Russland sehr unterschiedlich sein, letztlich werden sie überall von innenpolitischen Zielen geprägt. Die amerikanische Haltung zum Freihandel ist klassisch liberal – und ich lasse hier die auch den USA nicht fremden Versuchungen zum Protektionismus unter sektoriellem oder regionalem innenpolitischen Druck beiseite. Die Positionen der EU reflektieren stärker die Ansätze der sozialen Marktwirtschaft, hohe Standards in der Umweltpolitik und präferentielle Behandlung von Entwicklungsgebieten, allerdings wohl nicht in erster Linie aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern zum Schutz der in Europa erreichten Standards. Jede andere Haltung wäre für europäische Politiker selbstmörderisch: es ist schon schwer genug, die absolut erforderlichen Anpassungen zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit politisch umzusetzen. Russland als Transformationsland hat naturgemäß völlig andere Sorgen, aber gerade in dieser Phase ist internationale Anerkennung, wie sie in politischen Kontakten und der Bildung von Vertrauen in die Rahmenbedingungen für ausländische Investoren zum Ausdruck kommt, nicht nur für greifbare wirtschaftliche Fortschritte, sondern auch für die Autorität der politischen Führung wichtig. Stolz und Hoffnung auf wirtschaftlichen Aufschwung gehen Hand in Hand.

Was steht denn nun der wünschenswerten Intensivierung der Zusammenarbeit entgegen? Wir werden in den folgenden Beiträgen sicher noch manches dazu hören. Reibungspunkte mit den USA treten immer wieder auf, wenn diese nationale Interessen über bestehende oder im Entstehen begriffene internationale Spielregeln stellen, von der extraterritorialen Anwendung nationaler Gesetze (z.B. Kuba-Embargo) bis Kyoto. Dass diese Differenzen dann häufig auf wirtschaftlichem Gebiet zu heftigen und langwierigen Konflikten führen, grenzt gelegentlich ans Absurde. Was Russland betrifft ist es wohl das aus europäischer Sicht heute sicher nicht mehr zu rechtfertigende übertriebene Sicherheitsbedürfnis, das im ständigen Wunsch nach institutioneller Einbindung – nach Möglichkeit mit Vetorecht – zum Ausdruck kommt. Wie schon eingangs angesprochen, liegen die Wurzeln in der jüngeren Geschichte: die USA werden sich von der zumindest unterbewusst immer wieder auftretenden Enttäuschung über die mangelnde Treue ihrer europäischen Alliierten ebenso lösen müssen wie Russland von seinem Misstrauen gegenüber Strukturen, in denen es nicht bestimmendes Vollmitglied ist.

Absolute Voraussetzung dafür ist aber, dass Europa ernst damit macht, Europa zu werden. Die Debatte über die Zukunft Europas darf nicht zur Nabelbeschau der EU-15 werden. Sie muss das neue, größere Europa ebenso mitdenken wie die Verantwortung des „global player“. Dazu gehört auch die institutionelle Einbindung von Russland und auch der Ukraine innerhalb der EU. Um die politikhistorische Terminologie von Sloterdijk weiterzuspinnen: das Europa von morgen darf ebenso wenig das Reich eines schwachen Königs mit Duodezfürstentümern sein wie von einem Eurosowjet regiert werden.