Innerhalb der Europäischen Union gehen die Ansichten darüber, ob und in welchem Tempo sich die EU
nach Osten öffnen soll, auseinander. Der Erweiterungskommissar Günther Verheugen vermutete in diesem
Zusammenhang sogar, daß es bei einem Volksentscheid in einigen osteuropäischen Staaten gar nicht sicher
sei, ob die Bevölkerung überhaupt für einen Beitritt zur EU stimmen würde. Die Ergebnisse einer
kürzlich von der Institutsgruppe IMAS-International in den Kandidatenländern durchgeführten Untersuchung
widerlegen den Zweifel im Hinblick auf Ungarn und Polen sehr eindeutig, können ihn allerdings hinsichtlich
Tschechien nicht ganz ausräumen:
In Ungarn halten 59 Prozent der Bewohner den Beitritt ihres Landes zur EU für wichtig, in Polen 55 Prozent,
in der Tschechischen Republik hingegen nur 44 Prozent.
Bestritten wird die Notwendigkeit einer Mitgliedschaft zur EU in Ungarn und Polen von jeweils rund einem Drittel
der Bevölkerung. In Tschechien ist der innere Widerstand gegen die Europäische Union mit 40 Prozent jedoch
fast so groß wie die Befürwortung. Der offenkundig hohe Stellenwert, den eine EU-Mitgliedschaft in Ungarn
und Polen besitzt, steht übrigens in einem auffallenden Gegensatz zur etwas disillusionierten Lagebeurteilung
der Österreicher. Unter ihnen befinden sich derzeit nur knapp 40 Prozent, die die Mitgliedschaft zur Europäischen
Union rückblickend als wichtig einstufen; eine 50 Prozent starke Mehrheit der Österreicher tut dies nicht.
Bei einer näheren Betrachtung der Umfragebefunde zeigt sich, daß die subjektiv empfundene Dringlichkeit
eines EU-Beitritts in allen Kandidatenländern einen engen Zusammenhang zu Alter und Schulbildung aufweist.
Demnach wird die Notwendigkeit einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union von den Angehörigen der Generation
unter 30 sowie von Personen mit hoher Schulbildung ungleich stärker betont als von den ältesten und weniger
gebildeten Fraktionen der Bevölkerung. Auch in Tschechien befinden sich Befürworter der EU bei Jungen
und Gebildeten in massiver Überzahl gegenüber den Zweiflern.
Vermutete Folgen für die eigene Lebenslage
Als sich das IMAS in weiterer Folge danach erkundigte, welche Auswirkungen die Bevölkerung in den
drei Kandidatenländern von einer EU-Mitgliedschaft für die eigene Lebenslage erwartet, stieß es
in Ungarn auf eine geradezu euphorische Haltung. Dort prognostizieren die Bewohner im massiven Verhältnis
von 41:13 Prozent eine Verbesserung ihrer persönlichen Situation. In Polen und Tschechien überwiegt der
Optimismus nur ganz knapp mit 29:26 bzw. 29:27 Prozent. Analog der prinzipiellen Befürwortung ist auch die
Erwartung von persönlichen Vorteilen durch eine Mitgliedschaft zur Europäischen Union überdurchschnittlich
hoch bei jüngeren und gebildeteren Schichten, ziemlich pessimistisch verhalten sich dagegen die älteren
und einfacheren Menschen. (Siehe gegenüberliegende Tabelle).
Die berufliche Verlockung des Westens
Es stellt sich die Frage, welche praktischen Konsequenzen eine EU-Mitgliedschaft der drei Kandidatenländer
für die Arbeitsmarktsituation in Europa hätte. Zu diesem Zweck wurde von den IMAS-Instituten die Bereitschaft
der jeweiligen Bevölkerung geprüft, ihre beruflichen Chancen und besseren Verdienstmöglichkeiten
in anderen Ländern wahrzunehmen. Die Anworten lassen auf eine extrem starke Wanderungstendenz der Polen schließen,
von denen jeder Vierte erklärte, von günstigen Arbeitsplatzangeboten im Ausland "bestimmt"
Gebrauch machen zu wollen. In Ungarn bekundete knapp jeder Fünfte, in Tschechien rund jeder Achte eine feste
Absicht, nach dem EU-Beitritt seine Aufstiegschancen im Ausland zu suchen.
Auch, wenn man in Betracht zieht, daß die deklamierten Absichten nur zum Teil verwirklicht werden, ist in
jedem Fall mit einem gewaltigen Potential von wanderungsbereiten Osteuropäern zu rechnen, zumal zu den scheinbar
fest entschlossenen Wohlstandsemigranten noch beträchtlich große Kreise von Personen kommen, die nach
eigener Aussage "wahrscheinlich" von verlockenden Angeboten im Ausland Gebrauch machen würden. Die
Wanderungsbereiten werden sich erwartungsgemäß in überdurchschnittlicher Zahl aus den Angehörigen
der jungen Generation rekrutieren, sie werden sich in bildungsmäßiger Hinsicht jedoch nur unwesentlich
von der übrigen Bevölkerung unterscheiden. Dies bedeutet, daß Personen mit höherer Bildung
keinen übermäßig großen Ehrgeiz verspüren, ins Ausland zu übersiedeln und sich
offenkundig gute Chancen ausrechnen, im Mutterland eine berufliche Karriere zu machen.
Die Wanderungsziele
Aufgrund der IMAS-Befunde ist außer Zweifel, daß die arbeitssuchenden Osteuropäer als
Zielland in erster Linie die Bundesrepublik Deutschland im Auge haben. Von den wanderungsbereiten Ungarn und Polen
wollen jeweils zwei Fünftel vor allem dort ihr Glück versuchen, unter den Tschechen sind es etwas weniger.
Für die Ungarn übt darüber hinaus auch Österreich eine starke Faszination aus, wo jeder vierte
Arbeitssuchende beruflich heimisch werden möchte. Rund jeder siebente Ungar würde ansonsten England oder
die Schweiz in Betracht ziehen. Deutlich geringer ist die Lust, sich in Frankreich, Italien oder Holland nach einer
Arbeit umzusehen. Die Polen haben eine ziemlich einseitige Präferenz für einen Arbeitsplatz in Deutschland.
Am ehesten wären für sie ansonsten noch England oder Holland verlockend. Österreich steht im Prioritätenkatalog
der Polen erst an 6. Stelle.
Das eigenwilligste Wanderungsverhalten haben die EU-skeptischen Tschechen. Abgesehen von ihrer relativ schwach
ausgeprägten Vorliebe für Deutschland als Berufsregion zeichnet sie eine vergleichsweise starke Neigung
für eine Arbeitssuche in England aus. Immerhin ein Fünftel der mobilen Tschechen spielt mit dem Gedanken,
sich auf der Insel niederzulassen. Merklich kleiner ist (mit 15 Prozent) die Neigung tschechischer Auswanderer
nach einer Jobsuche in Österreich oder (von 14 Prozent erwähnt) in der Schweiz. Unter den übrigen
westeuropäischen Staaten findet allenfalls noch Frankreich (mit 10 Prozent) einen gewissen Anklang. Alles
in allem vermitteln die Umfragebefunde die Gewißheit, daß sich die Osterweiterung sehr uneinheitlich
auf die Arbeitsmärkte der westlichen Mitgliedsländer auswirken wird. Die Belastung oder der Nutzen des
wanderungsbereiten Menschenpotentials wird sich in hohem Maße auf die (zugleich wohlhabenden) Nachbarländer
Deutschland und Österreich konzentrieren, in beachtlichem Umfang auch auf England und die vorerst nicht der
Gemeinschaft angehörige Schweiz. Frankreich, Holland, Italien und Spanien werden davon wenig zu spüren
bekommen, Skandinavien und die übrigen Länder fast gar nichts. Diese Sachverhalte sind von beträchtlicher
politischer Relevanz.
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