COSAC diskutiert über Zukunft und Perspektiven der Europäischen Union
Brüssel/Wien (pk) – Um die Zukunft der Europäischen Union und mögliche Perspektiven ging
es am 9. Juli im zweiten Teil der Konferenz der Vorsitzenden der Europaausschüsse der EU-Mitgliedstaaten
(COSAC) in der Hofburg. Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, warnte dabei vor einer Renaissance
nationalstaatlichen Denkens. Es sei notwendig, die nationalen Parlamente stärker in die EU-Politik einzubinden,
um das Vertrauen der Bevölkerung zu fördern, meinte er, wer jedoch glaube, dass bestehende Probleme in
Europa mit einer Rückkehr zum Nationalstaat gelöst werden könnten, unterliege einer Illusion. "Wir
brauchen eine Alternative zum blinden, polternden Nationalismus, wir brauchen eine Art zivilen Patriotismus über
nationale Grenzen hinweg."
Auch wenn sich derzeit niemand vorstellen könne, dass sich die EU auflösen werde, müssten ihre Errungenschaften
aktiv verteidigt werden, forderte Timmermans. Auch 1912 habe niemand geglaubt, dass die europäische Landkarte
ein paar Jahre später eine ganz andere sein wird. Für dringend notwendig hält Timmermans in diesem
Sinn mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Auch Mairead McGuinness, Vizepräsidentin des Europäischen
Parlaments, hob die Bedeutung von Kompromissfähigkeit, nicht nur im Zusammenhang mit dem Brexit, hervor.
Geleitet wurde das zweite Diskussionspanel vom Vorsitzenden des EU-Unterausschusses des Nationalrats Reinhold Lopatka.
Sein Hinweis darauf, dass die EU nicht nur aufgrund der jüngsten globalen Entwicklungen mit großen Unsicherheiten
konfrontiert sei, sondern auch im Inneren viele Fragen zu lösen habe, bildete den Leitfaden für die Debatte,
in der angefangen vom EU-Budget für die kommenden Jahre über die EU-Erweiterung bis hin zur Brexit viele
Themen angeschnitten wurden. Wiederholt wurde auch die Konzentration der EU auf zentrale Themen geäußert.
Ein gemeinsamer Nenner kristallisierte sich allerdings in der Diskussion nicht heraus, je nach Perspektive rückten
die ParlamentarierInnen bestimmte Anliegen in den Vordergrund.
Timmermans: Mitgliedstaaten müssen einander stärker vertrauen
Als Kern der aktuellen Probleme in der EU machte Timmermans fest, dass das Versprechen der Konvergenz durch eine
Reihe von in den letzten Jahren zu bewältigenden Krisen stark unterminiert wurde. Die Wirtschaftslage habe
sich zuletzt zwar enorm verbessert, trotzdem habe sich – nicht zuletzt aufgrund der Migrationskrise und aufgrund
globaler Entwicklungen – ein Gefühl der Angst in der Bevölkerung breit gemacht. Der Reflex der Menschen,
sich verstärkt zum Nationalstaat hinzuwenden, sei verständlich, da das soziale System durch die Nationalstaaten
geschaffen wurde, sagte Timmermans, er glaubt aber nicht, dass damit die bestehenden Probleme gelöst werden
können. Die Nationalstaaten seien zu klein, um etwa der gegenwärtigen US-Politik entgegentreten zu können.
Vielmehr müssten die EuropäerInnen zusammenhalten.
Um das Vertrauen der Bevölkerung in die EU zu erhöhen, wertete es Timmermans als durchaus zielführend,
die nationalen Parlamente stärker in die EU-Politik einzubinden. Das allein würde aber nichts an der
Qualität der Rechtssetzung ändern. Man müsse vielmehr ein Bewusstsein dafür schaffen, dass
die EU-Länder gemeinsam dafür verantwortlich seien, wenn in der EU etwas funktioniert, ebenso wie sie
gemeinsam dafür verantwortlich seien, wenn etwas schief geht.
Timmermans ging später auch auf ein paar in der Debatte aufgeworfene Fragen ein. So meinte er zur Migrationskrise,
jene, die glaubten, dass Teillösungen nachhaltig sind, würden sich irren. Man könne das Problem
nicht allein durch einen besseren Schutz der Außengrenzen lösen. Es brauche auch eine Reform von Dublin
und eine gemeinsame europäische Asylpolitik. In diesem Sinn hält er es ebenso wenig für kompatibel,
die Beibehaltung offener Grenzen im Inneren zu fordern und sich gleichzeitig aus einer gemeinsamen Lösung
herauszureklamieren. Solidarität sei nicht etwas, was man à la carte bestellen könne.
Auch beim Mehrjährigen Finanzrahmen der EU wird man nach Überzeugung Timmermans nur dann zu einer Lösung
kommen, wenn die Länder kompromissfähig sind. Alle Wünsche unter einen Hut zu bringen, sei nicht
möglich. Klartext redete der Vize-Kommissionspräsident auch in Bezug auf das laufende Rechtsstaatlichkeits-Verfahren
gegen Polen: Die EU-Kommission habe als Schiedsrichter dafür zu sorgen, dass die Mitgliedsländer ihre
mit dem EU-Beitritt eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen einhalten. Dazu gehöre auch Respekt gegenüber
dem Justizapparat.
McGuinness: EU ist der sicherste Hafen, den Europa hat
Was den Brexit betrifft, lautet der Leitsatz der EU laut Timmermans: "So wenig Schaden wie möglich für
alle Seiten." Dem schloss sich auch Mairead McGuinness, Erste Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments
an. Niemand wolle "ein politisches Drama". "Es muss ein Weg des Kompromisses verfolgt werden",
bekräftigte sie. Ziel müsse es sein, den Schaden für beide Seiten zu minimieren. Auch dem norwegischen
Delegationsleiter Michael Tetzschner ist es ein Anliegen, den EU-Binnenmarkt nicht zu schwächen, schließlich
würden Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Norwegen auch von einer positiven Entwicklung der EU abhängen.
Zur Zukunft der EU im Allgemeinen merkte McGuinness an, im harten Umfeld sei die EU vielleicht der sicherste Hafen,
den Europa habe. Sie erachtet allerdings eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und
den nationalen Parlamenten für erforerlich. Die Mitgliedstaaten sollten bereits zu Beginn und während
des Verfahrens in die Diskussion eingebunden werden und nicht erst am Ende der Verhandlungen, wobei man laut McGuinness
innerfraktionelle Strukturen nutzen könnte.
"EU soll sich auf ihre Stärken konzentrieren"
In der Diskussion wurde unter anderem vorgebracht, dass sich die EU-Länder einander annähern und nicht
voneinander entfernen sollten. Man müsse sich mehr auf die eigenen Stärken wie etwa den Binnenmarkt und
die gemeinsame Handelspolitik besinnen und die Kräfte bündeln. Die EU habe zusammengenommen wahrscheinlich
die bestausgebildete Bevölkerung der Welt, verfüge über das größte diplomatische Heer
und sei auch die größte militärische Macht der Welt, ohne dass sich das in ihrer Bedeutung adäquat
niederschlage, hieß es etwa von Seiten der ParlamentarierInnen.
Allerdings sei es auch wichtig, Jahrhunderte alte Traditionen und die Vielfalt der Länder und Nationen zu
respektieren, wurde eingemahnt. Die EU solle sich auf Fragen konzentrieren, wo ihr Mehrwert sichtbar werde. Genannt
wurden von den DiskussionsteilnehmerInnen in diesem Zusammenhang etwa die Bereiche Migration, Sicherheit, Welthandel
und Verteidigung. Auch für die "industrielle Wiedereroberung" zur Generierung neuer Arbeitsplätze,
für die Beseitigung von wirtschaftlicher Ungleichheit und für die Schaffung des sozialen Ausgleichs brauche
es Europa.
Aber nicht nur der Grundsatz der Subsidiarität, sondern auch jener der Solidarität wurde mehrfach angesprochen.
Es gebe Länder, die nationale Rechte hochhalten wollen, aber Solidarität von anderen einfordern, hieß
es etwa von Seiten einer Parlamentarierin. Die Mitgliedstaaten alleine könnten nicht mehr schaffen als die
Staaten zusammen, mahnte eine andere Stimme. Man dürfe Brüssel nicht für alles verantwortlich machen,
was schief geht.
Immer wieder Thema war auch der Mehrjährige Finanzrahmen der EU. So zeigten sich mehrere VertreterInnen Ost-
und Südeuropas mit dem Kommissionsvorschlag unzufrieden. Neue Aufgaben dürften nicht zu Lasten der Kohäsionspolitik
und der Agrarförderung finanziert werden, so der verbreitete Tenor.
Unterschiedliche Meinungen gab es auch, was den Ausbau der direkten Demokratie in Richtung Volksabstimmungen auf
EU-Ebene betrifft. So gab ein Vertreter Deutschlands, abgesehen vom Brexit-Votum, zu bedenken, dass sich Frankreich
und Deutschland niemals gemeinsam in der damaligen Kohle- und Stahlgemeinschaft wiedergefunden hätten, hätte
Charles de Gaulle nach den Nazi-Gräueln das französische Volk darüber abstimmen lassen.
Seitens des irischen Vertreters wurde darauf hingewiesen, dass Irland am allermeisten vom Brexit betroffen sei.
Für sein Land sei es undenkbar, dass Großbritannien die EU ohne Vertrag verlasse, sagte er. Es brauche
Kreativität, wie man mit dem gemeinsamen Wirtschaftsraum umgehe.
Gewarnt wurde auch davor, wieder neue Mauern innerhalb der EU zu errichten. Die Staaten, die hinter dem Eisernen
Vorhang lagen, seien in dieser Frage sehr sensibel, hieß es etwa von Seiten der slowakischen Delegation.
Als ein wesentliches Zukunftsthema wurde überdies die demografische Entwicklung in Europa angesprochen. Hingewiesen
wurde auch auf das extrem schwierige Umfeld, in dem die Wahlen zum Europäischen Parlament im nächsten
Jahr stattfinden werden. Unter anderem gegen eine strikte Austeritätspolitik wandte sich die Vertreterin Griechenlands.
Von Seiten der Westbalkanländer wurde dafür geworben, die EU-Erweiterung nicht aus dem Fokus zu verlieren.
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